Schottlands Steve Clarke bei der EM 2021:Geprägt von José Mourinho

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Nur dreimal verloren in 18 Spielen: Schottlands Trainer Steve Clarke umarmt seinen Spieler Che Adams. (Foto: Facundo Arrizabalaga/Reuters)

Der schottische Nationalcoach könnte sein Team erstmals in die K.-o.-Runde einer EM führen. In seiner Arbeit profitiert er von den Lehrjahren unter Trainergrößen.

Von Sven Haist, Glasgow

Den Vorwurf, auf der Position des Nationaltrainers nicht alles versucht zu haben, muss sich die Scottish Football Association (SFA) nicht gefallen lassen. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat die SFA 24 Trainer angestellt, einige sogar mehrmals. Zu dieser umfangreichen Liste an durchaus geläufigen Namen gehört neben Sir Alex Ferguson, Schottlands bekanntestem Trainer im Weltfußball, auch der Deutsche Berti Vogts als bislang einziger ausländischer Trainer auf dieser Position.

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Nach der verpassten EM-Teilnahme 2004 musste Vogts nach zwei Jahren sein Amt bereits wieder räumen, ebenso wie zuletzt Alex McLeish im Frühjahr 2019, der Grund: ein desaströses 0:3 gegen Kasachstan. Trotz des hohen Personalbedarfs ließen sich stets neue ambitionierte Fußballlehrer für die Nationalelf finden, bis den schottischen Verband nach der jüngsten Entlassung die Sorge ereilte, dass sich kein renommierter Trainer mehr diese kaum aussichtsreiche Tätigkeit antun würde. "Einen Kessel der Negativität" machte der Scotsman rund um die Nationalelf aus, der sich "aus Misserfolgen, dem Unbehagen der Fans und Stümpereien im Verband" befülle.

Auf der Suche nach einem Nachfolger für McLeish bewegte die SFA schließlich den früheren Nationalspieler Steve Clarke zu einem Engagement, der den FC Kilmarnock im Oktober 2017 auf dem letzten Tabellenplatz übernommen und dann auf den dritten Platz der Scottish Premiership geführt hatte. Unmittelbar vor der Verpflichtung verhängte der Verband jedoch eine Disziplinarstrafe gegen ihn wegen einer Schimpftirade auf Referee Steven McLean - jedoch nicht an "Stephen Clarke", wie er korrekt heißt, sondern an "Steven Clarke". Clarke prangerte das Malheur als "unprofessionell" und "respektlos" an. In Kilmarnock hatte ihn schon mal ein Reporter mit dem englischen Trainer Steve McClaren verwechselt.

Im entscheidenden Spiel gegen Kroatien muss Schottland ohne den gefeierten Mittelfeldmann Billy Gilmour, 20, auskommen: Corona

Nach den peinlichen Versehen kennt Clarke, 57, geboren im Küstendorf Saltcoats bei Glasgow, inzwischen jeder im Land der Hügel und Täler. Bei der elften Turnierteilnahme, der dritten bei einer EM, könnte Schottland mit einem Sieg über Kroatien im heimischen Hampden Park am Dienstag (21 Uhr) erstmals in der Geschichte die Vorrunde überstehen. Allerdings muss das Team im Entscheidungsspiel ohne den gefeierten Mittelfeldmann Billy Gilmour, 20, auskommen, der positiv auf Corona getestet worden ist.

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Doch selbst ohne das viel erhoffte Weiterkommen würden viele Schotten diese EM wohl als historisches Ereignis werten, 23 Jahre nach der letzten Turnierteilnahme. "Als Schotte bin ich glücklich, dass Steve am Ruder sitzt", sagt Graeme Souness, 68, am Telefon. Auf der Insel gehört Souness zu den anerkannten Experten, mit dem FC Liverpool wurde er einst Europapokalsieger und zählt zu den besten Spielern, die Schottland je hervorgebracht hat: "Ich kenne Clarkey seit Jahrzehnten. Er ist ein ruhiger Zeitgenosse, ausgeglichen und mit klarem Kopf, der weder überschwänglich wird im Sieg noch trübselig in der Niederlage. Das mag sich langweilig anhören, aber er ist ein hochseriöser Fußballfachmann."

Lernen von den Großen: Clarke assistierte Mourinho, Gullit, Zola und Dalglish

In 23 Länderspielen hat Clarke seine Spieler zu einem schwer schlagbaren Team entwickelt. Von den vergangenen 18 Partien verloren sie nur drei, davor setzte es noch vier Niederlagen in fünf Partien, darunter jeweils ein 0:4 gegen Belgien und Russland. Die Analyse von Souness: "Steve ist ein pragmatischer Coach, der das Potenzial aus der Gruppe herausgeholt hat. Während seiner Arbeit mit dem Nationalteam ist er immer besser geworden, hat dazugelernt, wie das ein Trainer tun sollte."

Die Times charakterisierte ihn als "gewieft und unerschütterlich", er wähle meist die passgenaue Aufstellung und Strategie. Als geschätzte Vertrauensperson assistierte Clarke in seiner Karriere von 1998 bis 2012 den Trainergrößen Ruud Gullit bei Newcastle United, José Mourinho beim FC Chelsea, Gianfranco Zola bei West Ham United und Landsmann Kenny Dalglish beim FC Liverpool. Am meisten geprägt hat ihn wohl Mourinho, der ihn bei seiner Ankunft in Chelsea 2004 aus dem Nachwuchs zu einem seiner Assistenten beförderte.

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Erst mit 48 Jahren, als sich sein Leben mit Gattin Karen und zwei Söhnen gefestigt hatte, nahm Clarke die Position des Cheftrainers an: bei West Bromwich. Mithilfe der Tore des damals noch wenig bekannten belgischen Angreifers Romelu Lukaku führte er den Abstiegskandidaten in seiner Debütsaison auf Platz acht, es war die beste Platzierung des Klubs in der Premier League.

In der Folgespielzeit entließ ihn West Bromwich kurz vor Weihnachten, ohne Lukaku war sein Team nach unten abgerutscht. Mit dem FC Reading erreichte Clarke noch das Halbfinale im FA-Cup 2015, aber seine Laufbahn schien sich zu diesem Zeitpunkt bereits dem Ende entgegen zu neigen. In der Grafschaft Bershire westlich von London zog er sich mit seiner Familie zurück und widmete sich seinen Interessen Golf und Fliegenfischen - bevor ihn seine Frau doch noch mal ermutigte zur Tätigkeit in Kilmarnock, unweit seiner Heimat.

Souness sagt: "Steve ist ein Teamplayer, der nie das Scheinwerferlicht und die Öffentlichkeit sucht. Bei seinen Stationen als Cheftrainer war er nie mit Stars gesegnet, wodurch er die Stärke aus der Gruppe ziehen musste. Das hilft ihm nun in Schottland." Als Außenverteidiger absolvierte Clarke 421 Pflichtspiele für Chelsea, in seiner letzten Partie nach elf Jahren gewann er mit dem Klub sogar den Europapokal der Pokalsieger - 1:0 gegen den VfB Stuttgart, 1998 war das.

Seine Vita hat Clarke sofort die Akzeptanz und das Vertrauen des schottischen Teams eingebracht. Auch wenn ihn Weggefährten mit dem Verweis auf seinen trockenen Humor durchaus als wortkarg und stur charakterisieren. Als Spieler sei man sich nie so richtig sicher, wie man Clarke einschätzen solle, sagt Schottlands derzeit bester Torschütze John McGinn, weil er immerzu etwas "mürrisch" dreinschaue: "Aber das ist er nicht, es ist einfach sein ruhiges Gesicht." Ein Gesicht, das in Schottland mittlerweile nicht mehr verwechselt wird.

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