Süddeutsche Zeitung

Schmähungen im italienischen Fußball:Geisterspiel wegen "territorialer Diskriminierung"

In Mailand ist man fassungslos: Ein Geisterspiel, weil die üblichen Verdächtigen in der Kurve ihre Landsmänner aus Neapel beleidigt haben. Tatsächlich sind die Uefa-Vorschriften vom italienischen Verband um einen entscheidenden Paragrafen erweitert worden. Jetzt streiten die Beteiligten um ein neues Gesetz.

Von Birgit Schönau, Rom

Als hätte der AC Mailand nicht schon Probleme genug. In der Tabelle geht es abwärts, nach dem 2:3 vom Sonntag gegen Juventus Turin steht der Vorjahresdritte auf Platz zwölf. Mit dem einst so mächtigen Patron Silvio Berlusconi ist auch kein Staat mehr zu machen - der überlegt gerade, wo er seinen Sozialdienst als verurteilter Steuerbetrüger absolvieren soll. Und nun noch das: Geldbuße über 50.000 Euro und Stadionsperre beim nächsten Liga-Spiel gegen Udinese Calcio am 19. Oktober. Wegen "territorialer Diskriminierung".

Territorialer . . . was?! In Mailand ist man fassungslos. Ein Geisterspiel, weil die üblichen Verdächtigen in der Kurve ihre Landsmänner aus Neapel beleidigt haben? "Absurd", schäumt Milan-Manager Adriano Galliani, "zu behaupten, dass ich sauer bin, wäre hoffnungslos untertrieben. So einen Unsinn gibt es nur in Italien."

Tatsächlich sind die Antirassismus-Vorschriften des europäischen Fußball-Verbandes Uefa vom italienischen Verband Federcalcio im Sommer um einen entscheidenden Paragrafen erweitert worden. Seitdem drohen den Klubs bei "territorialer Diskriminierung" durch ihre Anhänger saftige Strafen laut Artikel 11, Nummer 3 und 18, Absatz 1, Buchstabe D. Erst Kurvensperre, dann Stadionsperre, schließlich eine 0:3-Niederlage.

Hinter dem Begriff verbirgt sich jene Diskriminierung von Landsleuten aus dem Süden, die in Italien eine lange Tradition hat. Auch 152 Jahre nach der Reichseinigung ist die Einheit Utopie, es gab vor zwei Jahren sogar handfeste politische Auseinandersetzungen darüber, ob man die 150-Jahrfeier überhaupt festlich begehen sollte. Als "Terroni", Erdfresser, beschimpfen manche Norditaliener die Nachbarn aus dem Mezzogiorno - seit Jahrzehnten gehören derlei Beleidigungen auch zum Propaganda-Vokabular der Separatisten-Partei Lega Nord.

Die Lega regiert derzeit die drei großen Nord-Regionen Piemont, Lombardei und Venetien, ihre Vertreter boykottieren nationale Feiertage und fallen regelmäßig mit diskriminierenden oder rassistischen Äußerungen auf. Beispielsweise gegen Integrationsministerin Cécile Kyenge, die aus dem Kongo stammt und das erste schwarze Regierungsmitglied in Italien ist.

In der italienischen Politik gibt es für diese Pöbeleien keine angemessenen Sanktionen, niemand tritt, wie geschehen, wegen eines Vergleichs von Ministerin Kyenge mit einem Orang-Utan zurück. Anders im Sport. Die Federcalcio greift in dieser Saison hart durch, wegen Schmähungen schwarzer Spieler wurden bereits die Kurven von Lazio Rom, Inter Mailand und des Tabellenführers AS Rom gesperrt. Lazio ist außerdem von der Uefa wegen Fanrandale beim Europa-League-Spiel gegen Legia Warschau bestraft worden: Stadionsperre fürs nächste Spiel gegen die Zyprioten von Apollon Limassol.

Worum es in den als diskriminierend eingestuften Fan-Chören geht? Gegen Napoli wird meist eine angebliche Geruchsbelästigung thematisiert: "Merkst du den Gestank, da flüchten ja die Hunde: Die Neapolitaner kommen. Oh, diese Cholera-Kranken, das Erdbeben hat sie platt gemacht, ein Stück Seife haben die noch nie gesehen. Napoli, du bist eine Schande für Italien."

Ist das Rassismus? Nein, findet Milan-Mann Adriano Galliani: "Wenn ich aus Brescia komme und die Mailänder als Stinker beschimpfe, riskiere ich dann auch die Stadionsperre? Und die Bayern, die die Dortmunder verulken?"

Bei den beanstandeten Fangesängen wurden übrigens gar nicht die schweren Geschütze protokolliert. Es reichte, dass die Milanisti vor Anpfiff sowie in der 6. und 43. Spielminute folgenden Refrain anstimmten: "Wir sind keine Neapolitaner."

Rassismus, schnaubt Galliani, sei eine ernste Sache, "aber doch nicht das Veralbern von Landsleuten". Man könne sich natürlich fragen, wieso die erste Kurvensperrung für Milan nach dem Heimspiel gegen Sampdoria Genua erfolgte. Und die zweite jetzt in Turin gegen Juventus. Beide Male waren die Neapolitaner ganz woanders.

Milan-Kurvenführer Giancarlo Capelli, genannt "il Barone", hat jetzt ehrlich geantwortet: "Wir wussten genau, was wir da taten und welche Strafe wir riskierten", gestand er einem Radiosender. Es habe sich um eine kalkulierte Protestaktion gegen eine "schwachsinnige Vorschrift" gehandelt: "Glaubt ihr tatsächlich, dass sich die anderen Kurven still verhalten werden? Es wird eine Protestwelle im ganzen Land geben."

Es sieht ganz so aus, als könnte der komische Kurvenadlige Recht behalten. Denn am Sonntag wurden die Neapolitaner noch in einem anderen Stadion beleidigt. "Napoli Colera" stand auf Spruchbändern, "Vorwärts Vesuv, wasche sie mit Feuer", grölte die Kurve. Das ganze Stadion applaudierte und hatte Spaß - es handelte sich um das San Paolo in Neapel, wo der SSC eine Nordmänner-Truppe aus Livorno locker 4:0 erledigte. Ob das ein Nachspiel wegen Selbst-Diskriminierung gibt? Die Spruchbänder wurden in der Curva B gezeigt, dort sind die schrägsten Napoli-Fans Stammgast.

Wie man ohne Unterstützung der Verbandsfunktionäre mit Pöbelei fertig wird, hatte Napoli schon vor 30 Jahren bewiesen. Damals erfand die rechte Kurve von Hellas Verona gegen die Konkurrenz aus dem Süden den Schlachtruf: "Vorwärts, Vesuv, verbrenne sie." Beim Rückspiel konterte Napoli: "Julia ist eine Schlampe." Um das zu kapieren, musste man Shakespeare gelesen haben, dessen Liebesdrama Romeo und Julia in Verona spielt. Wie jeder Erdfresser weiß.

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SZ vom 09.10.2013/jbe/rus
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