Schiedsrichter im Fußball:Alarmstufe Rot

SSV Jahn Regensburg - VfR Aalen

Schiedsrichter im Fokus: einige wollen sich nicht mehr bepöbeln lassen.

(Foto: dapd)

Nachdem in Rosenheim ein Unparteiischer bewusstlos geprügelt wurde, melden sich viele Kollegen zu Wort. Laut Verband passiert nicht mehr als früher. Was einst verharmlost wurde, wird nun aufgebauscht, meinen manche. Fakt ist, dass es an Schiedsrichtern bereits mangelt.

Von Andreas Liebmann

Dreißig Prozent. Thomas K. hat schon alle möglichen Prognosen gehört, vom völligen Erblinden seines linken Auges bis hin zu einer möglichen Sehstärke von 70 Prozent. Zurzeit sind es also 30, er ist kürzlich operiert worden, eine neue Netzhaut und eine künstliche Linse hat er bekommen. Mehr als ein Monat ist vergangen, seit sein Fall in den Zeitungen stand: ein Fußball-Schiedsrichter, der auf dem Platz bewusstlos geprügelt wird. Nach einem A-Klasse-Spiel in Rosenheim. In der zehnten Liga.

Thomas K. schweigt. Höflich, aber bestimmt wehrt seine Familie jede Presseanfrage ab. "Er will nichts unnötig aufbauschen", übermittelt Josef Kurzmeier, Obmann der Schiedsrichtergruppe Chiem. Er nimmt der Familie sozusagen die Öffentlichkeitsarbeit ab. "Das Schlimmste sind die psychischen Probleme", erzählt er. Thomas K., Vater zweier Kinder, habe Schwierigkeiten, nachts einzuschlafen, er verlasse kaum das Haus. Die Bilder verfolgen ihn.

Gegen seinen Angreifer läuft eine Zivilklage, er wird sich also weiter mit seinen Erlebnissen vom 3. Oktober auseinandersetzen müssen. Und natürlich bekommt er die Nachrichten mit. Vor einigen Tagen wurde in den Niederlanden ein Linienrichter totgeprügelt, "wenn man das liest, kommt alles wieder daher", sagt Kurzmeier. "Er hat lange gegrübelt", sagt er, "aber er hat sich nichts vorzuwerfen. Er hat gepfiffen wie immer in all den Jahren."

Schwer zu sagen, wie Thomas K. die Szene mitbekommen hat. Muttalip Sarikaya kann sich gut daran erinnern, er ist Trainer des ESV Rosenheim; seine Mannschaft hatte in der hektischen Nachspielzeit per Freistoß das 2:2 gegen Iliria Rosenheim erzielt, eine albanische Mannschaft. Eine ruppige Partie sei es gewesen, 14 Karten habe der Schiedsrichter gezeigt, zweimal Gelb-Rot gegen Iliria. "Berechtigt", fand Sarikaya.

Nach Abpfiff sei dann ein albanischer Auswechselspieler aufs Feld gerannt, mit Anlauf habe er den Unparteiischen niedergestreckt, das Opfer sank auf die Knie, bekam einen weiteren Hieb ab. "Dann bin ich hingegangen, ich kannte viele der Spieler", sagt Sarikaya, "ich dachte, ich rede mit denen und bringe den Schiedsrichter in die Kabine."

Doch der Trainer kam nicht weit, er wurde abgedrängt, hörte, er solle sich da raushalten, dann bekam er einen Tritt ab. Eine Rippenprellung und eine Nierenquetschung wurden später diagnostiziert, Lappalien im Vergleich zu Thomas K., dessen Jochbein gebrochen war und dem mehrere Zähne fehlten. "Der tut mir wirklich leid", sagt Sarikaya.

"Die Spirale der Gewalt gegen Schiedsrichter, aber auch der Mannschaften untereinander dreht sich unentwegt nach oben" - dieser Satz steht im Rücktrittsschreiben von Hans-Jürgen Schreier. Schreier war Schiedsrichterobmann in Dachau. Seit er und sein Stellvertreter Andreas Hitzlsperger vor fast drei Wochen zurücktraten, läuft rund um München eine Debatte über Ausschreitungen im Amateurfußball.

Zahlreiche Rücktritte

Die beiden fungieren in Zeitungen, im Radio und Fernsehen als eine Art Kronzeugen. Sie fordern vom Verband mehr Unterstützung für ihre Kollegen, härtere Strafen und eine offenere Debatte. Viele Obleute unterstützen dies, auch wenn nicht alle das Vorgehen sinnvoll finden. Sie könnten die Sicherheit ihrer Leute nicht mehr gewährleisten, argumentieren die Dachauer, viele ihrer Schiedsrichter hätten Angst.

Auslöser ihrer Rücktritte war eine Massenschlägerei zwischen Spielern und Zuschauern während eines B-Jugend-Spiels im Münchner Norden. Der Schiedsrichter kam nicht zu Schaden, er war in die Kabine geflüchtet. Eine ganze Menge solcher Fälle haben sie zusammengetragen, Morddrohungen, Beleidigungen, Handgreiflichkeiten. Doch auch in anderen Teilen Bayerns gab es in den zurückliegenden Wochen Auswüchse der Gewalt.

In Marktoberdorf wird ein Bezirksligatrainer von einem gegnerischen Spieler niedergestreckt, "von einer Sekunde auf die andere ist es finster geworden", sagt der 55-Jährige, ein Polizeioberkommissar. In Augsburg geht ein Jugendtrainer auf einen U17-Torwart los, schlägt ihm die Faust ins Gesicht. Vor vier Wochen sind im Kreis Inn-Salzach der Obmann der Schiedsrichtergruppe Ruperti und sein Beisitzer zurückgetreten, sie berichten unter anderem von üblen Beleidigungen.

In Schwaben wird ein Schiedsrichter bei einem B-Klasse-Spiel verbal derart attackiert, dass er nach 27 Jahren hinwirft. "Auch ich bin nicht mehr bereit, Wochenende für Wochenende der Depp, das Arschloch, der Wichser zu sein", sagt er. In Ingolstadt drückt ein Spieler dem Unparteiischen die Schulter ins Gesicht und fügt ihm mit einem Schlag eine Rippenprellung zu. Im Allgäu werden seit 1. November einige untere Ligen gar nicht mehr mit Verbandsschiedsrichtern besetzt, um den Betrieb in den höheren Klassen sicherzustellen. Nach vielen Rücktritten gebe es nicht mehr genügend Schiedsrichter; viele seien es leid, sich in ihrer Freizeit beleidigen zu lassen, sagt Kreisspielleiter Franz Schmid. Es herrsche "Alarmstufe Rot".

Gibt es tatsächlich mehr Gewalt auf den Plätzen? Laut Statistiken des Bayerischen Fußball-Verbands (BFV) passiere nicht mehr als in früheren Jahren. Horst Winkler, Bezirkschef in Oberbayern, spricht in Zusammenhang mit den Rücktritten in Dachau gar von "Panikmache". Den Ruf nach härteren Sanktionen beantwortet er im Sinne seines Verbandschefs Rainer Koch gerne mit dem Hinweis, dass die Todesstrafe in den USA auch nicht bewirke, dass es dort keine Verbrechen mehr gibt. Dennoch hat der Verband den Unmut registriert, den viele Obleute in den vergangenen Wochen artikuliert haben. Winkler hat für Januar alle oberbayerischen Obmänner zu einer Klausurtagung geladen.

In Rosenheim glauben weder Sarikaya noch Kurzmeier, dass die Gewalt wirklich zugenommen hat. "Fälle, die früher verharmlost wurden, werden jetzt aufgebauscht", vermutet Kurzmeier. Sein Kollege, "ein Pfundskerl", habe eben Pech gehabt. Die beiden Schläger wurden auf Lebenszeit vom BFV ausgeschlossen, Iliria musste 500 Euro Geldstrafe zahlen. "Da war die ganze Region geschockt", sagt Sarikaya, "viele hätten wenigstens einen Punktabzug erwartet."

Der Iliria-Vorstand hatte sich öffentlich entschuldigt, die Gewalttäter ausgeschlossen; einen Faustschlag oder erkennbare Verletzungen des Schiedsrichters bestritt er. Schnell tauchten im Internet ausländerfeindliche Seiten auf, inzwischen hat sich die Lage beruhigt. Und Thomas K.? Sein 14-jähriger Sohn hat die Schiedsrichterprüfung geschafft, und er will weiterpfeifen. Laut Kurzmeier habe der Vater gesagt: "Du sollst nicht darunter leiden, dass mir sowas passiert ist."

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