Schiedsrichter-Debatte bei der EM:"Der Druck wäre sehr groß gewesen"

Tor? Kein Tor? Tor? Nach haarsträubenden Entscheidungen bei der EM verteidigt Schiedsrichterchef Pierluigi Collina seine Zunft - mehr als den Verweis auf menschliche Fehler hat er jedoch nicht zu bieten. Stattdessen verabschiedet er drei Unparteiische aus dem Turnier, die zuvor Fehler begangen hatten.

Thomas Hummel

Einen halben Tag nach dem verwehrten Tor in Donezk steht der spanische Schiedsrichter Carlos Velasco Carballo auf dem Trainingsplatz der Fußballanlage Agrykola in Warschau und ruft "Gol!", dann noch einmal: "Gol!" Beim dritten Mal blickt er fragend zu seinem Assistenten, der breitet die Arme aus: "No gol!" Zehn Mal geht das so. Ein Spieler wirft Bälle aufs Tor, ein Torhüter und ein Feldspieler auf der Linie wehren sie ab. Gol oder no gol, Tor oder kein Tor, das ist die Frage dieser Übung. Es ist plötzlich die Frage des Turniers. Doch das konnte die Europäische Fußball-Union Uefa noch nicht wissen, als sie zwei Tage vorher dieses Schautraining ihrer Schiedsrichter angesetzt hatte.

Euro 2012: Training Schiedsrichter

"Ja, es war ein Fehler": Schiedsrichter-Boss Pierluigi Collina.

(Foto: dapd)

Am Abend zuvor hatte der Engländer John Terry einen Schuss des Ukrainers Marko Devic knapp, aber nach Ansicht der TV-Bilder klar hinter der Linie geklärt, es wäre das 1:1 gewesen - und die Ukrainer hätten mit frischem Mut aufs notwendige zweite Tor drängen können. Doch der fünf Meter entfernt stehende Torrichter Istvan Vad aus Ungarn erkannte: No gol! (siehe auch Seite Drei)

Auf der unscheinbaren Sportanlage nahe Weichsel üben nun die Linienrichter, Abseitsstellungen zu erkennen. Einige Schiedsrichter zeigen Fitnessübungen à la DFB-Trainer Marc Verstegen: Einer versucht zu sprinten, während ihn der andere mit einem Gummiband zurückhält. Doch eigentlich interessieren sich alle nur für diese Torrichter-Übung; dort ballen sich die Kameras, dort steht auch Pierluigi Collina, der Chef der Schiedsrichter der Uefa.

Das Gespann um den Ungarn Viktor Kassai, das am Dienstag den Fehler in Donezk verantwortete, fehlt aufgrund der großen Reisedistanz. So dürfen seine Kollegen vorführen, wie man die zentrale Frage simulieren kann: Tor? Kein Tor? Dabei wird deutlich, wie schwierig selbst für gut funktionierende Augen die Entscheidung sein kann, ob ein Ball nun drin war oder nicht. Als die Schiedsrichter auf der Anlage Agrykola mit ihrer Übung fertig sind, gehen sie neben das Tor zu einem Tischchen. Dort sitzt ein Mann, der ihnen die Aufzeichnung der Torkamera auf einem Flachbildschirm zeigt. Carlos Velasco Carballo nickt, alles richtig gemacht.

Aber warum nur stand der Flachbildschirm nicht einen Tag zuvor in der Donbass-Arena, warum rief keiner dem Kollegen Kassai zu, dass der Ball drin war? Mit dieser Frage muss sich nun Collina auseinandersetzen. Es sollte eigentlich nur eine einfache Zwischenbilanz der Schiedsrichter-Leistungen werden, doch nun ist der große Saal fast voll.

Und Collina geht in die Verteidigung. Der Italiener mit der markanten Glatze hat allerlei Zahlen dabei, die beweisen sollen, wie gut die Unparteiischen bislang gepfiffen haben. Zum Beispiel: Zahlen zu Abseitsentscheidungen. "Es gab da 296 richtige und 13 falsche Entscheidungen", referiert Collina, "das entspricht einer Genauigkeit von 95,7 Prozent." Und die Torrichter? "Die hatten bei der EM dreimal die Entscheidung zu treffen, ob ein Ball drin war oder nicht, leider war eine falsch." Er wolle aber betonen, dass der Ball in Donezk keineswegs einen halben Meter hinter der Linie gewesen sei: "Wir sprechen hier von ein paar Zentimetern."

"Wir tun unser Bestes"

Damit will sich ein Ukrainer im Saal nicht zufriedengeben. Er lässt sich das Mikrofon reichen, brüllt fast hinein: Die Nation frage sich, wieso da fünf Leute herumstehen und keiner es sehe! Und überhaupt: Die Nation vermisse das Bekenntnis dazu, dass dies ein Fehler war! Collina legt die Stirn in Falten, zieht die Mundwinkel nach unten: "Ja, es war ein Fehler, unglücklicherweise. Aber wir sind alle nur Menschen."

Das mit den Menschen ist das Problem. Doch technische Hilfsmittel für Schiedsrichter? Collina ist dagegen. Seit drei Jahren testen die europäischen Schiedsrichter in der Europa League und in der Champions League den Torrichter - und Collina beteuert: "Dies war die erste Fehlentscheidung." Der Torrichter helfe zudem, Fouls im Strafraum zu ahnden. "Wir tun unser Bestes, dass es funktioniert."

Rückfragen nach nicht gegebenen Elfmetern für die dänische (der Deutsche Badstuber hielt Bendtner fest) und für die kroatische Mannschaft (der Spanier Ramos foulte Mandzukic) will Collina nicht beantworten. Die Torrichter hatten eigentlich gute Sicht auf diese beiden Szenen, sie reagierten aber nicht.

Stattdessen gibt Collina die acht Schiedsrichter bekannt, die für die nun anstehende Endrunde in Frage kommen. Nicht dabei sind: Björn Kuipers aus den Niederlanden - und Viktor Kassai, Velasco Carballo und Wolfgang Stark, sie müssen das Turnier verlassen. Alle Beteiligten an den heftig umstrittenen Szenen des dritten und richtungsweisenden Vorrundenspieltages sind damit also raus. Er wolle keine Einzelbewertungen abgeben, unterstreicht Collina. Nur zu Viktor Kassai sagt er noch: "Der Druck auf ihn wäre in den kommenden Spielen sehr groß gewesen."

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