Süddeutsche Zeitung

Schiedsrichter bei der EM:Technik? Nein, danke!

Das Torrichter-System ist absurd. Die Referees haben sich - nach monatelangem Training - bestenfalls lächerlich gemacht. Uefa-Chef Platini wird auch deshalb aus dieser EM angeknockt hervorgehen. Zumal Schiedsrichterfehler bei den letzten Turnieren just sein französisches Team begünstigt haben.

Thomas Kistner

Vor 43 Jahren hat der Mensch den Mond erobert, auch sonst tat sich seither technologisch einiges: Von der Drohne über die pränatale Operation im Mutterleib bis zur Mikro- kamera, die in Hemdknöpfe passt.

Aber halt. Ein kleines, milliardenschweres Schattenreich hat sich den Segnungen der Technik bisher strikt verweigert - der Fußball. Weltverbands-Boss Sepp Blatter und Europa-Chef Michel Platini sahen stets unüberwindbare technische Probleme darin, einen melonengroßen Gegenstand beim Überschreiten einer dicken Kreidelinie zu erfassen.

Stattdessen wurde alberner Aktionismus betrieben mit Chips in Bällen und schließlich der Torlinienrichter eingeführt, als menschliche Problem- lösung, die der Sportfunktionär ja so schätzt. "Der muss nur schauen", dozierte Uefa-Chef Platini, "ob der Ball über die Linie ist." Das hat der Torrichter im Spiel England - Ukraine getan, mit monatelanger Übung, und sah doch nicht, was Millionen TV-Zuschauer in aller Welt aus jeder Warte sahen: Tor für die Ukraine.

Auch tags zuvor im Spiel Spanien - Kroatien guckte der Hilfssheriff auf der Linie ganz genau hin - und verpasste als einziger Augenzeuge ein Foulspiel, das direkt vor ihm stattfand. Das ist die Bankrotterklärung. Das Torrichter-System ist absurd: Statt drei sind nun fünf Referees zugange, Tendenz steigend, die Macht des Funktionärs steigt mit jedem Pöstchen, das er zu vergeben hat - und was machen diese Referees? Sich lächerlich. Bestenfalls.

Im Juli tagt das Regelboard, gewettet werden darf, dass Blatter die Kameratechnik absegnen lässt. Warum aber gerade er, der alles jahrelang blockierte? Erstens ist der Beschluss jetzt ja sehr populär. Zweitens war Blatter stets ein Chamäleon, frei von festen Überzeugungen. Drittens will sich der Chef der skandalumtosten Fifa als Reformer neu erfinden. Da ist die alte Verweigerungshaltung gefährlich, zumal sie ja eine entlarvende politische Komponente hat: Die Objektivierung des Spiels durchs unbestechliche Kameraauge beschneidet auch die Einflussmöglichkeiten der Funktionäre und anderer Beteiligter. Dass es die gibt, bezeugen Berge an staatlichen Ermittlungsakten.

Blatter dürfte, wie so viele Weggefährten - die Fifa-Skandalnudeln Bin Hammam, Warner, Teixeira - auch Zögling Platini eigenen Zielen opfern. Dass er nun offen die Tor- linientechnologie fordert, schwächt Platini und dessen Chancen auf die Fifa-Thronfolge. Soll niemand glauben, der listige Blatter wolle 2015 nicht erneut antreten; es braucht nur die günstige Situation. Platini wird aus dieser unruhigen EM so angeknockt hervorgehen wie aus der Kamera-Debatte. Zumal üble Schiedsrichterfehler bei den letzten Großturnieren just sein französisches Team begünstigt haben wie kein anderes: 2010 entriss Thierry Henry per Handspiel Irland das WM-Ticket. Und hätte die Ukraine jetzt England besiegt, wäre Frankreich heimgereist.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1388817
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 21.06.2012/segi
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.