Ginge es nach dem Sportgericht des Deutschen Fußball-Bundes, dann würde der VfL Bochum an diesem Donnerstag mit drei relevanten Zeugen zum DFB-Campus nach Frankfurt reisen: Trainer Dieter Hecking, Torwart Patrick Drewes und Flügelspieler Felix Passlack sollten bei der mündlichen Verhandlung davon Zeugnis ablegen, was genau passiert und was alles gesprochen worden war in der 92. Minute des Bundesligaspiels am 14. Dezember im Stadion an der Alten Försterei. Ein Feuerzeug aus dem Fanblock des 1. FC Union hatte den Bochumer Torwart getroffen. Drewes sank zu Boden und wurde ausgewechselt. Der VfL spielte nach langer Unterbrechung nur unter Protest weiter, legte nachträglich Einspruch gegen die Wertung des 1:1-Unentschiedens ein und beansprucht nun vor Gericht statt des einen Zählers die vollen drei Punkte.
Doch am Wochenende geht die Saison schon weiter. Der VfL Bochum, als Tabellenletzter in akuter Abstiegsgefahr, gastiert am Samstag in Mainz, und 48 Stunden vor einem so wichtigen Spiel kann der Trainer nicht ganztägig wegen eines Gerichtstermins ausfallen. Noch länger warten kann die Aufarbeitung des Feuerzeugwurfs von Köpenick aber auch nicht; durch Weihnachten und Jahreswechsel sind schon 25 Tage seit dem Zwischenfall vergangen. Also dürfen Hecking und der Zeuge Passlack in Bochum bleiben. Sie werden per Video zugeschaltet, wenn ab 13.30 Uhr in Frankfurt verhandelt wird.
Von Bochumer Seite werden Drewes und Mannschaftsarzt Mark Sandfort beim DFB erscheinen, zudem VfL-Justiziar Jonas Schlevogt und Rechtsbeistand Joachim Rain aus der Kanzlei des Sportrechtsexperten Christoph Schickhardt. Als Zeugen aussagen sollen auch Union-Geschäftsführer Horst Heldt und Schiedsrichter Martin Petersen. Letzterer hatte das Spiel nach knapp halbstündiger Unterbrechung für drei Minuten noch mal angepfiffen, um nicht durch einen Spielabbruch bereits Fakten zu schaffen.
Bei Erhalt von drei Punkten würde Bochum mit Holstein Kiel gleichziehen und Heidenheim näherkommen
Im Paragraf 13.2b der Spielordnung heißt es: „Einsprüche gegen die Spielwertung können u. a. mit folgender sachlicher Begründung erhoben werden: Schwächung der eigenen Mannschaft durch einen während des Spiels eingetretenen Umstand, der unabwendbar war und nicht mit dem Spiel und einer dabei erlittenen Verletzung im Zusammenhang steht.“ Das DFB-Gericht unter Leitung des Vorsitzenden Stephan Oberholz muss nun entscheiden, ob das auf diesen Fall zutrifft.
Dabei stellen sich relevante Fragen, deren Bochumer Antworten schwierig zu verifizieren sein werden: Wie hart hat das Feuerzeug Drewes wirklich getroffen? Was hat VfL-Spieler Passlack dem Torwart hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert, bevor Drewes ein zweites Mal zu Boden ging? War der Treffer so stark, dass Drewes von zwei Männern vom Platz geführt werden musste? Und war wirklich sein Transport ins Krankenhaus nötig? Hätte er nicht vielleicht sogar weiterspielen können?
Nachruf auf Wolfgang de Beer:Ein Teddy für alle
Mehr als 38 Jahre lang war Wolfgang de Beer bei Borussia Dortmund, als Torwart, Ersatztorwart, Torwarttrainer, Fanbeauftragter und Ikone des Vereins, immer als Liebling der Fans. Der BVB trauert um „einen der Guten“.
All dies dürfte in der Verhandlung zur Sprache kommen. Drewes hatte für sein Verhalten auch Kritik geerntet, manche unterstellten ihm eine überzogene, taktisch motivierte Reaktion. Die Bochumer argumentieren: Darum gehe es letztlich nicht. Entscheidend sei der Treffer durch das Feuerzeug. VfL-Geschäftsführer Ilja Kaenzig sagte: „Das kann ja nicht der Maßstab sein, ob jemand verletzt, schwer verletzt, ohnmächtig oder sonst was ist.“
Für den deutschen Fußball hat der Fall auf diese oder jene Weise Signalwirkung. Gibt das Gericht Bochum recht, um auch Härte gegen wurfbereite Fans zu demonstrieren, dann räumt man andererseits Chaoten einen kaum mehr zu kontrollierenden Einfluss ein, dann könnten künftig fliegende Gegenstände jederzeit Spiele, Resultate sowie letztlich Tabellenstände und Entscheidungen über Aufstieg, Abstieg und Titel beeinflussen. Wird das Spiel hingegen 1:1 gewertet, wie es Union-Kapitän Christopher Trimmel am Donnerstag vorschlug („Mein Gefühl sagt: Belasse es beim Unentschieden! Ich bin guter Dinge, dass wir den Punkt behalten.“), dann könnte Bochum argumentieren, keine sportlich faire Chance auf ein Siegtor in der Nachspielzeit gehabt zu haben. Das Gericht könnte auch eine Spielwiederholung ansetzen. Sollten Bochum hingegen die drei Punkte direkt zugesprochen werden, hätte dies wiederum große Auswirkungen auf den Tabellenkeller. Dann zöge der VfL nach Punkten mit dem Vorletzten Holstein Kiel gleich (acht) und läge nur noch zwei Punkte hinter dem Drittletzten Heidenheim (zehn). Auch dort wird man die Verhandlung also mit großem Interesse verfolgen.
Kastanien und Schokoriegel: Fußball-Präzedenzfälle mit Wurfgeschossen von der Tribüne
20. Oktober 1971: Inter Mailands Roberto Boninsegna wird im Landesmeister-Achtelfinale bei Borussia Mönchengladbach von einer Cola-Dose getroffen und ausgewechselt (28.). Gladbach gewinnt 7:1. Das Spiel wird in Berlin wiederholt und endet 0:0. Gladbach scheidet aus.
27. November 1976: Beim Bundesligaspiel zwischen dem 1. FC Kaiserslautern und Fortuna Düsseldorf fliegen Flaschen aufs Feld. In der 76. Minute bricht der Münchner Schiedsrichter Rudolf Frickel die Partie bei Düsseldorfer 1:0-Führung ab. Das Spiel wird 2:0 für Düsseldorf gewertet.
19. November 1988: Beim Bundesligaspiel zwischen dem Karlsruher SC und Borussia Mönchengladbach wird Gladbachs Christian Hochstätter von einem Feuerzeug getroffen und ausgewechselt (45.). Karlsruhe gewinnt 3:1. Das Spiel wird wiederholt und endet 2:2.
11. September 1993: Im Pokal-Drittrundenspiel zwischen Borussia Mönchengladbach und dem Karlsruher SC wird der KSC-Torwart Oliver Kahn von einer Kastanie getroffen (47.). Er spielt aber weiter und sieht später wegen einer Notbremse Rot (85.). Gladbach gewinnt 5:3 nach Verlängerung. Karlsruhe legt Einspruch ein. Das Spiel wird in Düsseldorf wiederholt. Gladbach gewinnt 1:0.
9. Mai 1994: Beim Zweitligaspiel zwischen Bayer Uerdingen und dem VfL Bochum wird Bochums Torwart Andreas Wessels von einem Stück Trockeneis getroffen und ausgewechselt (48.). Uerdingen gewinnt 3:1. Das Spiel wird wiederholt. Uerdingen gewinnt 3:0.
7. Februar 1998: Beim Bundesligaspiel zwischen Bayer Leverkusen und Werder Bremen wird Werder-Torwart Oliver Reck von einem Snickers getroffen (61.). Er spielt aber weiter und sieht später wegen eines Fouls umstritten die rote Karte (82.). Leverkusen gewinnt 4:1. Werder widerspricht nicht.
12. April 2000: Beim Bundesligaspiel in Freiburg wird Bayerns Torwart Oliver Kahn kurz vor Schluss von einem Golfball an der Schläfe getroffen und blutet stark. Er spielt aber weiter, die Bayern gewinnen 2:1.
24. November 2003: Beim Zweitligaspiel zwischen Alemannia Aachen und dem 1. FC Nürnberg wird Nürnbergs Trainer Wolfgang Wolf in der 73. Minute von einer Münze getroffen und blutet. Die Alemannia gewinnt 1:0. Das Spiel wird vor leeren Rängen wiederholt. Aachen gewinnt 3:2.
8. März 2022: Als Linienrichter Christian Gittelmann beim Bundesligaspiel zwischen dem VfL Bochum und Borussia Mönchengladbach von einem Bierbecher getroffen wird (69.), bricht Schiedsrichter Benjamin Cortus die Partie ab. Gladbach führt 2:0. Später wird das Spiel am grünen Tisch genau so gewertet.