Süddeutsche Zeitung

Krise von Schalke 04:Seit Jahren der teuerste mediokre Klub Deutschlands

Noch sind 75 Punkte zu vergeben, doch bei Schalke fühlt es sich so an, als stünde der Abstieg bereits fest - der Absturz begann schon zu besseren Zeiten.

Kommentar von Milan Pavlovic

Eines sollte man sich vergegenwärtigen: Es sind noch 25 Spieltage zu absolvieren, 75 Punkte zu vergeben. Bei Schalke 04 allerdings fühlt es sich so an, als wäre die Saison schon fast vorbei, als stünde der Abstieg bereits fest - und das im Grunde seit dem 1. Spieltag, als das 0:8 beim FC Bayern die Richtung vorgab.

Seitdem kann man dabei zusehen, wie sich die Verunsicherung auf alle Teile des finanziell, nervlich und seelisch gebeutelten Klubs ausbreitet wie eine lähmende Masse; alle Maßnahmen der Klubverantwortlichen zielten ins Leere, alle Appelle stießen bei den überforderten Spielern auf taube Ohren und/oder dicke Beine, und der Ballast der Sieglosigkeit, der sich seit dem 19. Spieltag der vergangenen Saison in über zehn Monaten aufgetürmt hat, läuft am Ende auf den Mount Everest der Erfolglosigkeit hinaus: den Minusrekord von Tasmania Berlin, dem legendären Loser-Klub, der in den 1960ern die Minusmarke von 31 Partien ohne Sieg hinterließ - Schalke 04 steht (oder liegt) seit Samstagabend bei 25. Und wirkt zunehmend wie von einem Strudel verschluckt.

Sollte es in gut sechs Monaten wirklich so weit sein, dass der Traditionsverein zum vierten Mal in die Zweite Liga absteigen muss (nach zuletzt 30 Jahren im Oberhaus), dürfte ausgiebig thematisiert werden, wer alles die Schuld daran trägt und wer sich bei diesem radikalen Absturz den schwärzesten Peter verdient hat. Am Ende dürfte dann klarwerden, dass in diesem Fall das Kartenblatt voller schwarzer Peter ist: Die Liste der Verantwortlichen ist lang und umfasst viele prominente Namen, von Felix Magath bis Christian Heidel, die enorme Geldmassen bewegten und monströse Verträge unterzeichneten - in dem Irrglauben, der Klub werde quasi im Abonnement immer wieder international mitspielen.

Und so wurden immer häufiger Abfindungen für Trainer fällig, die nicht passten (Breitenreiter, Weinzierl, Wagner); Talente wie Matip und Goretzka, Kolasinac und Nübel wurden nicht rechtzeitig gebunden und wechselten ablösefrei; unbrauchbarer Ersatz wurde überteuert eingekauft (Mendyl) und dann für absurd niedrige Summen ausgeliehen oder verscherbelt (Konopljanka). Oder nacheinander geholt, gefeiert, hoch entlohnt, suspendiert, bestraft, begnadigt, suspendiert, verliehen, zurückgeholt, suspendiert (Bentaleb).

Mit Raúl schoss Schalke 75 Tore. In dieser Saison sind es bisher sechs.

So chaotisch und wenig einleuchtend sich der Umgang mit Bentaleb darstellte, so launisch war der Führungsstil im Verein, seitdem Manager Horst Heldt 2016 als Klub-Verantwortlicher gehen musste, nach sieben Spielzeiten, in denen der Klub viermal unter den Top 4 und sechsmal unter den ersten Sechs gelandet war. 2011/12 - es kommt einem vor wie aus der Zeit kurz nach der Erfindung des Farbfernsehens - spielte Schalke 04 dank Raúl und Huntelaar eine wirklich hinreißende Saison mit 75 erzielten Toren. (Derzeit sind es sechs nach neun Spielen.)

Trotzdem begann der Abstieg im Grunde schon in diesen besseren Zeiten, denn die Schere zwischen Einsatz und Ertrag wurde in dieser Zeit immer größer. Einmal noch, 2018, führte der junge Trainer Domenico Tedesco den Klub in einem Kraftakt auf den zweiten Tabellenplatz, aber das Ergebnis lenkte davon ab, dass mit wenig attraktivem, aber enorm leidenschaftlichem Fußball das Optimum erreicht wurde (unvergesslich: das 4:4 in Dortmund nach 0:4-Rückstand).

Sobald aber die Leidenschaft nachließ, war der gefeierte Tedesco ratlos und Schalke 04 der teuerste mediokre Klub Deutschlands. Die Platzierungen vor und nach Tedescos Ausnahmespielzeit geben den wahren Zustand des Vereins besser wieder: Zehnter, Vierzehnter und jetzt eben Achtzehnter. Man sieht nicht, wie diese Abwärtsspirale gestoppt werden könnte.

Leverkusen, Augsburg, Freiburg, Bielefeld, Hertha BSC, Hoffenheim, Frankfurt: Das sind im Extremfall die Stationen auf dem Weg zur historischen 32. In diesen tristen Tagen ohne Fans formieren sich neue Fans, denn niemand drückt den Schalkern kräftiger die Daumen als die Könige der Sieglosigkeit. "Das ist seit Jahrzehnten unser Rekord. Der gehört zur Tasmania-Identität", sagte Almir Numic, der Vorstandsvorsitzende des Berliner Klubs, unter der Woche dem Sport-Informationsdienst.

"Jeder kennt Tasmania. Zu Saisonbeginn wird in der Sportschau immer über uns gesprochen. Da stehen wir gratis in der Presse", erklärte der Unternehmer: "Da brauchen wir keine Werbekampagne. Es wäre schön, wenn das weiterhin so wäre." Allerdings haben sie das bei Tasmania nicht mehr in der Hand. Und bei Schalke 04 derzeit weder im Kopf noch in den Füßen.

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