Nicht selten sind die sinnlosesten Zweikämpfe die folgenreichsten. Als Danny Latza, der neue Kapitän des Absteigers Schalke 04, in der 15. Minute des ersten Zweitliga-Saisonspiels zum Ball strebte, war klar, dass er gegen den Hamburger Tim Leibold im unverminten Bereich des Mittelfelds wenig gewinnen konnte - aber eine Menge verlieren. Genauso kam es: Die Spieler rauschten gegeneinander, Latzas Knie verdrehte sich. Der Schalker wurde behandelt und versuchte sogar weiterzuspielen, aber nach 31 Minuten war Schluss. Eine Außenbanddehnung zwingt ihn nun, einige Wochen auszusetzen.
Das passte zu dieser Partie und zu diesen Mannschaften, die zuletzt beide so verflucht wirkten, als wären sie von bösen Mächten heimgesucht worden. Wer Kali, der Göttin der Zerstörung, ein wenig kennt, der weiß, was für ein sadistisches Biest die nachtragende mythische Gestalt sein kann. Seit ein paar Jahren hat sie die Kicker von Schalke 04 und des Hamburger SV auf dem Kieker, der Fluch hat inzwischen beide Traditionsklubs in die zweite Liga katapultiert. Der HSV hat hier zuletzt dreimal hintereinander Platz vier belegt; Schalke landete in der Vorhölle, die es zuletzt vor exakt 30 Jahren bewohnt hatte, weil es von den vergangenen 50 Erstliga-Partien gerade einmal drei gewonnen hatte.
Die Frage war also, wie es die gefallenen Größen hinbekommen würden, zum Start der Saison im direkten Duell beide zu verlieren. Die kurze Antwort: Es verlor dann doch nur der Gastgeber aus Gelsenkirchen, 1:3 (1:0). Zwei unerwartete Nebensätze lauten: Auch die Schalker nahmen einige positive Erkenntnisse mit - nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sich die Atmosphäre angesichts von 19 770 Zuschauern wie ein richtiges Fußballballspiel anfühlte. So viele Fans hatte es in der Arena zuletzt im März 2020 gegeben, eine Woche vor dem ersten Lockdown, als die Schalker noch Platz sechs der ersten Liga belegten und sich über ein 1:1 gegen Hoffenheim ärgerten.
Terodde nähert sich Schatzschneider
"Wir wussten, dass es laut werden würde", sagte Hamburgs neuer Trainer Tim Walter beeindruckt, "aber nicht, dass es so laut werden könnte." Als die Gäste sich auf den Pegel eingestellt hatten, lagen sie bereits zurück, und das lag an der besten Schalker Neuigkeit des Abends: Simon Terodde, der auf dem Weg ist, Dieter Schatzschneider als erfolgreichsten Vollstrecker der zweiten Klasse abzulösen (noch führt der frühere Hannoveraner mit 154:143), hatte bereits in der siebten Minute getroffen. Es war ein Mittelstürmertor, wie es den Schalkern seit dem ersten Lockdown kaum noch gelungen war: Ballgewinn in der eigenen Hälfte nach einem formidablen Tackling, Steilpass in den Lauf des Goalgetters, der haargenau im richtigen Moment startet und dann technisch fein den Torwart ausguckt. Der Jubel der Fans, die verspätet bemerkten, dass der Video-Schiedsrichter tätig wurde, verstummte - und schwoll wieder an, als der Abseits-Verdacht gekippt wurde.
Ist es aber ein gutes Zeichen, wenn ein patentierter, auch schon 32-jähriger Zweitligatorjäger auf eine solche Weise heraussticht? Wenn er so spielt wie Terodde am Freitag, dann unbedingt. Er verteidigte die Bälle und verteilte sie, verzögerte oder beschleunigte das Tempo und verschwand manchmal aus dem Sichtfeld des Gegners, als verfügte er über den Stealth Mode eines Tarnkappenbombers. Das kam umso überraschender, alldieweil Terodde in der vergangenen Spielzeit noch beim Hamburger SV gespielt und 24 Mal getroffen hatte.
Andererseits ist es schon ein Problem, wenn der Rest der Mannschaft (noch) nicht auf einer Höhe mit seinem Mittelstürmer ist. Nach einer Viertelstunde brauchten die Hausherren schon eine merkliche Sauerstoffpause, die "defensive Dominanz", von der Schalkes Trainer Dimitrios Grammozis sprach, forderte früh ihren Preis. In dieser Phase begannen die Hamburger, die Kontrolle zu übernehmen. Auch diese Phase lässt sich kurioserweise von beiden Seiten positiv verkaufen: Die Gäste spielten gefällig, aber die Schalker hatten trotzdem alles im Griff - sieht man einmal von dem schmeichelhaften Elfmeter ab, den Kinsombi erstolperte, Glatzel aber vergab (28.); Schalkes Ersatztorwart Langer, der für den positiv getesteten Ralf Fährmann eingesprungen war, parierte.
Die Zuschauer hatten also allen Grund zur Freude, zumal Zugang Victor Pálsson einige Gefahrenmomente durch resolutes Einschreiten beendete und zwei Konter einleitete mit 35-Meter-Kopfbällen, die an die Zeiten von Marcelo Bordon erinnerten, Meisterschaftszweiter war Schalke damals mehrmals, einmal sogar Champions-League-Halbfinalist, andere Zeiten eben. In der Gegenwart musste Kapitän Danny Latza verletzungsbedingt ausgewechselt werden (32.), Bülter war vor dem Tor zu eigensinnig (36.), und nach einem feinen Konter traf Blendi Idrizi frei vor HSV-Torwart Heuer Fernandes die falsche Entscheidung (51.). Keine zwei Minuten später war der HSV mit einem Tor auf dem Video-Würfel, ein fragwürdiger Freistoß, eine nicht ganz geglückte Parade von Langer und ein Abstauber von Glatzel sorgten für das 1:1.
HSV-Trainer Tim Walter wechselt den Sieg ein
Der HSV hatte damit ein schlafendes Raubtier geweckt. Nach der besten Kombination der Partie bediente Terodde den Linksfuß Ouwejan - anders herum wäre es vermutlich besser für Schalke gewesen, denn der Niederländer versuchte es mit Wucht statt mit Finesse gegen Heuer Fernandes (55.). Der Keeper der Gäste schien nun mindestens so viele Arme zu haben wie Kali, der die Legenden vier bis zehn Arme nachsagen: zunächst vor Bülter nach einer scharfen Flanke (59.), dann nach einer Ecke zweimal im Zweikampf mit Terodde (61.), der beim abschließenden dritten Versuch an den Pfosten löffelte. Doch danach, bereits nach 60 Minuten des ersten Spieltags, wirkte Schalkes Tank recht leer. Die Gäste setzten sich immer besser in Szene - auch dank einiger Wechsel von Trainer Walter. Die Gastgeber standen zunehmend ungeordnet und zu tief, und der zuletzt angeschlagene, deshalb spät eingewechselte Hamburger Sonny Kittel zeigte die Löcher in der Fünferkette auf. In der 86. Minute, Schalke sehnte den Abpfiff herbei, bediente er geschickt den ebenfalls eingewechselten Rohr, der auf den ebenfalls eingewechselten Moritz Heyer zurücklegte, der kühl abschloss.
Noch einmal fanden die Schalker den Reserve-Knopf, aber Heuer Fernandes waren offenbar zwei weitere Arme gewachsen, als er zunächst gegen Kaminski rettete (89.) und dann noch einmal gegen Terodde (90.). Diese Szenen bestätigten den Torjäger in der Ansicht, es gehe "im Fußball so eng" zu, "um Zentimeter, die manchmal fehlen. Wir hatten die klareren Dinger", analysierte er treffend, "aber richtig unverdient war der HSV-Sieg nicht". Die Hanseaten unterstrichen dies mit der Pointe des Abends, als Bakery Jatta - eine Stunde lang nahezu unsichtbar, dann minütlich besser - in den Schlusssekunden eine scharfe Flanke von Kittel volley zum 1:3-Endstand über die Linie drückte. Effektivität ist eben fast immer wichtiger als Quantität. Und Schalke musste sich mit der etwas vagen Aussicht trösten, dass Kali auch als Göttin der Erneuerung bekannt ist.