Süddeutsche Zeitung

Todesfall in Wolfsburg:Schweigen statt Analyse

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Von Javier Cáceres, Wolfsburg

Die Kanaren sind weit weg, und Omar Mascarell, der auf Teneriffa geborene Schalker, vermisst sie gerade in dieser Jahreszeit. Ihr Licht, ihr Meer, ihre Wärme. Am Sonntag wird er, nach getaner Arbeit, sich in den Flieger setzen und zu den Seinen fahren, zum Weihnachtsurlaub unter Palmen. Gleichwohl: Die Sehnsucht nach der Heimat bedeutet nicht, dass es Mascarell nicht schätzen würde, in Deutschland zu arbeiten. Im Gegenteil, es gibt Dinge, die ihn für Entbehrungen entschädigen. "Ich habe es schon oft gesagt: Was den gegenseitigen Respekt der Fans anbelangt, ist wahrscheinlich keine Liga der Welt der deutschen überlegen", sagte Mascarell nach dem für Schalke tragisch umrahmten Spiel beim VfL Wolfsburg.

Dieses endete mit einem 1:1, das die Beteiligten später so wenig interessierte, dass die Pressekonferenz der Trainer nach kaum mehr als drei Minuten beendet war. "Es ist nicht angebracht, dass wir in eine fußballerische Analyse gehen", sagte Wolfsburg Coach Oliver Glasner, nachdem sich schon sein Kollege David Wagner schmallippig und betroffen gezeigt hatte. Der Grund: Kurz vor der Partie war ein 41-jähriger Anhänger der Schalker vor dem VfL-Stadion einfach zusammengebrochen; Zeugen zufolge wurde ihm sofort von der Besatzung zweier Krankenwagen geholfen. Doch nach seinem Transport ins Krankenhaus verstarb der Fan.

Als die Kunde vom tragischen Todesfall die Runde gemacht hatte, malten Fans des VfL Wolfsburg rasch ein Banner, auf dem sie dem Verstorbenen wünschten, er möge in Frieden ruhen. Zugleich verabredeten sie mit den Schalker Fans, alle Fahnen einzurollen und die Chöre einzustellen. Als sie die Kabine betreten hatten, erfuhren auch die Schalker Spieler von dem Zwischenfall. Einige hatten sich über die Stille in der Kurve gewundert.

Dem VfL schadete das Silentium, als nach der Pause Schalke das erste Tor erzielt hatte. Wolfsburgs Trainer Glasner erklärte, als er sich wegen einer Nachfrage doch gezwungen sah, kurz aufs Spiel einzugehen, von einer "phantastischen ersten Halbzeit" seines Teams, auf die der "Schock" des Schalker Führungstreffers folgte - erzielt durch den überragenden, erst 19-jährigen türkischen Nationalverteidiger Ozan Kabak (53.), den Kollege Mascarell "ein als Mann verkleidetes Kind" nannte. VfL-Coach Glasner gab zu: "Wir haben fünfzehn, zwanzig Minuten gebraucht, um uns vom 0:1 zu erholen. Und da brauchst du eine Initialzündung von den Fans, die heute aber nicht kommen konnte." Wolfsburg kam dennoch zum späten Ausgleich, durch den Schweizer Rechtsverteidiger Kevin Mbabu (82.).

Schubert hadert nach dem Spiel mit sich

Das lag zu einem erheblichen Teil am jungen Schalker Startelfdebütanten Markus Schubert. Der U21-Nationalkeeper, der den wegen seines Kung-Fu-Fouls vorerst gesperrten Alexander Nübel vertreten musste, hatte bis zu diesem Zeitpunkt enormes Talent unter Beweis gestellt. Das fand auch Mascarell: "Was Torhüter anbelangt, können wir mit Alex und 'Schubi' wirklich beruhigt sein", sagte er, doch er flunkerte ein wenig, als er hinzufügte, dass Schubert "nichts vorzuwerfen" sei. Denn in Wahrheit begünstigte Schubert Wolfsburgs 1:1, weil er im Fünfmeterraum nicht nach einem Fußball, sondern sachte nach einem Schmetterling zu greifen schien. Die Folge: Der Ball fiel Mbabu vor die Füße, der Schweizer drosch ihn unter die Latte.

Schubert selbst wusste, was er getan hatte. Er haderte nach dem Spiel mit sich, schlug sich selbst auf den Hinterkopf, pfefferte eine Trinkflasche auf den Rasen. Danach stellte er sich den Reportern - was angesichts seines Alters und der Dimension des Fehlers alles andere als selbstverständlich war. Er sei "in der vollen Streckung gewesen", sagte Schubert, "dann reicht ein Touch aus, um den Ball nicht mehr festhalten zu können". Diese Berührung habe es seitens des Wolfsburgers Tisserand "definitiv" gegeben, sagte Schubert. Er habe das auch sofort bei Schiedsrichter Petersen anzeigen wollen, doch der sei "gleich weggerannt". Auch wenn die TV-Bilder den Wolfsburger entlasteten und dieser konkrete Luftzweikampf aussah wie ein Duell zwischen einem Papierflieger und einem Eisenvogel, bestand aus Sicht der Schalker keine Veranlassung, Schubert zu helfen. "Wir brauchen ihn nicht aufbauen", sagte Verteidiger Bastian Oczipka.

Zudem wäre nicht nur wegen des Todesfalls am Mittellandkanal, sondern generell an diesem Abend kein Wort unangebrachter gewesen als "Drama". Weder stellte das Unentschieden eine grobe Ungerechtigkeit dar, noch haben Schalkes Ambitionen gelitten. Sollten sich die Königsblauen am Samstag mit einem Sieg gegen Freiburg in den Weihnachtsurlaub verabschieden, dürfte sich an Neujahr in Schalker Fanfamilien wohl nicht vermeiden lassen, dass die Metallstücke, die beim Bleigießen aus dem Wasser gefischt werden, als Henkeltöpfe interpretieren werden. Denn die Aussicht auf eine Teilnahme an der Champions League 2020/21 ist alles andere als absurd.

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Quelle:
SZ vom 20.12.2019
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