Schalke 04:"Die Meisterschaft verloren, eine Mannschaft gewonnen"

Schalkes Trainer Mirko Slomka über das bittere Saisonende, fehlende Torgefahr und die Grillfeste im Garten des Brasilianers Lincoln.

Philipp Selldorf

SZ: Herr Slomka, sind Sie froh darüber, dass Stuttgart das 2:1 gegen Cottbus heimgebracht hat - und Schalke nicht trauern musste, wegen des Torverhältnisses den Titel verpasst zu haben?

Mirko Slomka: Als es irgendwann 2:1 für den VfB stand, war mir klar, dass da nichts mehr passieren würde. Alles andere ist ja hypothetisch. Darüber muss ich nicht mehr nachdenken. Was zählt, ist, dass wir unseren Fans einen schönen Abschluss haben bereiten können. Es war eine Riesenstimmung im Stadion, richtige Donnerhallenatmosphäre. Dass wir unsere Chance nicht am letzten Spieltag haben liegen lassen, das ist allen klar.

SZ: Tragen Sie die wichtigsten Momente der Schlüsselspiele weiter mit sich herum, sehen Sie sie gelegentlich vor Ihrem geistigen Bildschirm?

Slomka: Nein, überhaupt nicht. Ich versuche, so was schnell abzuhaken. Meistens schaue ich mir abends das Spiel noch mal an, um etwas für die Trainingswoche mitzunehmen, aber dann ist das erledigt. Diese bitteren Niederlagen, auch die, die wir in Bochum und in Dortmund erlitten haben, die muss man einfach sofort abstreifen.

SZ: Wie ist es Ihnen ergangen während dieses emotionalen Ausnahmezustands, in dem sich Schalke jetzt über mehr als drei Monate befunden hat? Sie wirkten auch in den heißesten Situationen sehr ruhig und rational.

Slomka: Wieso sagen Sie: "Sie wirkten"? Das war tatsächlich so. Ich versuche einfach, mich im Griff zu haben. Ich sage mir, dass ich im Training Überzeugungsarbeit leisten und dass ich mit meiner eigenen Darstellung vor den Spielern Vorbild sein muss. Es gehört dazu, dass man Zuversicht und Ruhe ausstrahlt und mit der einen oder anderen brisanten Situation gelassen umgeht.

SZ: Bayern kündigt Rieseninvestitionen an, Schalke steht die Champions League bevor - reichen da die angekündigten Transfers: Westermann, Streit, Jones, Schober als Ersatztorwart?

Slomka: Ist doch klar, dass wir die Augen und Ohren offen haben. Aber zunächst mal dürfen wir überzeugt sein von der Mannschaft, die wir bisher zusammengestellt haben. Wenn sich aus diesem Kader weniger Spieler verletzen als in der abgelaufenen Saison, dann hat das schon den Effekt eines zusätzlichen Neuzugangs. Unser Kader war und ist meisterwürdig - aber nur dann, wenn wir ihn voll ausschöpfen können.

SZ: Manager Andreas Müller hat am Samstag nicht sagen wollen, dass man dann eben nächstes Jahr Meister werden wolle. Da müsse man "vorsichtig" sein, meinte er. Was meinen Sie?

Slomka: Um ein Ziel zu nennen, dafür ist es jetzt noch zu früh. Das ist eine Strategieentscheidung. Die werden wir erst wieder treffen, wenn wir den Kader für die nächste Saison kennen. Aber vorher werden wir eine Analyse machen.

SZ: Die ist doch einfach: Schalke hat mit Nürnberg die wenigsten Tore in der Liga kassiert, aber im Vergleich mit den anderen Spitzenteams die wenigsten geschossen. Also: Angriff verstärken.

Slomka: Es blieb aber auch viel Potential offen: Asamoah hat lange gefehlt, Lövenkrands - der, wie ich finde, ein sensationeller Spieler ist - hat weite Teile der Rückrunde verpasst, Halil Altintop war nicht immer gesund und in seinem ersten Jahr, Sören Larsen stand fast die ganze Saison nicht zur Verfügung. So wurde alle Torgefahr auf Kevin Kuranyi abgeladen. Und der ganz entscheidende Unterschied zum VfB Stuttgart war, dass uns die Torgefahr aus dem Mittelfeld fehlte.

SZ: Warum kann Fabian Ernst den Torschuss nicht?

Slomka: Er kann das eigentlich. Nur halt aktuell noch nicht auf Schalke. Aber er hat sich schon enorm gesteigert in dieser Saison.

SZ: Was ist Ihnen im vergangenen Spieljahr besonders gut gelungen?

Slomka: Zuhören. Überall. Zuhören. Ab und zu auch: Zugucken.

"Die Meisterschaft verloren, eine Mannschaft gewonnen"

SZ: Wie bei Ihrem Torwart? Staunen Sie, wie der Rest der Welt, auch immer noch über Manuel Neuer?

Slomka: Über Manuel? Überhaupt nicht. Sonst hätte ich ihn ja nicht ins Tor stellen dürfen. Ich war überzeugt von seiner Qualität. Manuel hat eine Super-Saison und 14 mal zu Null gespielt, das ist richtig gut.

SZ: Neuers Qualität lässt sich im Training erkennen - aber wie wussten Sie, dass sie sich im Ernstfall bewährt?

Slomka: Es ist ja nicht so, als ob er noch nie im Tor gestanden hätte. Das ist genauso wie mein Einstieg als Trainer: Da haben die Medien auch alle so getan, als ob ich das erste Mal als Trainer arbeiten würde. Dabei war ich vorher schon 15 Jahre Trainer. Und Manuel Neuer spielt seit der F-Jugend bei Schalke. Es heißt dann immer, er hätte ja nie unter Druck gestanden. Aber bei der U 21 war er natürlich unter Druck.

SZ: Ist das vergleichbar mit einem Quasi-Endspiel vor 80000 in Dortmund?

Slomka: Er hat gegen Bayern vor 60000 in Schalke angefangen. Er ist ruhig, er ist gelassen, er hat eine Ausstrahlung, die Sicherheit gibt. Das war ausschlaggebend.

SZ: War die Entscheidung pro Neuer Ihre schwierigste Entscheidung?

Slomka: Es gab viele schwierige Entscheidungen, aber eine der wesentlichsten Entscheidungen war, Marcelo Bordon zum Kapitän gemacht zu haben. Ich muss sagen: Ich kann mir keinen besseren Kapitän vorstellen. Der so einfühlsam mit seinen Mitspielern umgehen kann, aber auch mit harter Faust auf den Tisch schlägt - und doch immer wieder zu seiner Ruhe zurückkehrt. In der Zusammenarbeit mit dem Trainerstab hat er eine Menge dazu beigetragen, dass wir diese Ruhe behalten haben.

SZ: Bordon hat am Samstag gesagt: "Wir haben die Meisterschaft verloren, aber eine Mannschaft gewonnen." Sehen Sie es ähnlich?

Slomka: Das ist eine sehr schöne Bilanz. So kenne ich Marcelo Bordon. Aber wir haben nicht nur in der schwierigen Zeit, im stürmischen Herbst, sondern auch während der Tabellenführung zusammengefunden. Es gab immer wieder Nachmittage und Abende, wo wir uns getroffen haben - und nicht immer mit dem Trainer. Ob Grillfest, Billardturnier, Bowling, Kino, die haben einfach irgendwas gemacht. All die Sachen, die immer von Trainern veranlasst werden - Klettern, Boot fahren, Mountainbiketouren oder so etwas - das ist alles gut und schön. Aber das, was ein Team zusammenschweißt, muss aus dem Team selbst kommen. Das gab es bei uns sehr, sehr häufig nach der Winterpause: Dass ein Zettel an der Wand hing, auf dem stand: Heute Abend bei mir Grillen im Garten.

SZ: Wer hat den schönsten Garten?

Slomka: Lincoln.

SZ: Passen bekannt schwierige Fälle wie Jermaine Jones oder Albert Streit in diese harmonische Umgebung?

Slomka: Es ist auch möglich, mit schwierigen Charakteren eine Gemeinschaft zu bilden. Jermaine Jones zum Beispiel, solche Typen, die dazwischenfunken, die braucht man doch. Er spielt ja auch auf einer Position, wo man gerade so einen Charakter benötigt, wo man sich nichts gefallen lässt.

SZ: Einen Gattuso-Charakter?

Slomka: Gattuso ist ein phantastischer Typ. Wir haben ihn in zwei Spielen mit Schalke erlebt. Er ist ja ein Verwandlungskünstler, ein Chamäleon des Fußballs: Auf dem Platz ein Kämpfer und Beißer. Aber wenn das Spiel vorbei ist: Einer der nettesten Menschen, die ich kennen gelernt habe.

SZ: Schalke ist wieder Zweiter geworden - muss die Mannschaft in der nächsten Saison wieder gegen das Image des tragischen Verlierers spielen? Oder lässt sich das wegblenden?

Slomka: Das kann man überhaupt nicht wegblenden. Das wird, wenn wir am Schluss wieder oben stehen sollten, in den Medien wieder hervorgeholt werden. ,,Meister der Herzen'', ,,Nervenflattern'' und all das - da kann ich als Trainer noch so gute Argumente dagegen anführen.

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