Auf den Tribünen lautete die Frage nicht: Warum? Die Frage lautete: Wer? Wer wohl alles diesen Ball gehalten hätte, den Alexander Schwolow nach 21 Minuten zum Ausgleich passieren ließ, womit der Lauf der Dinge auf einmal ein ganz anderer war. Die Antworten fielen nicht schmeichelhaft aus für den bedauernswerten Schwolow. Den Schuss hätte sogar der Torwart des blau-weißen Bambini-Teams abgewehrt, meinten die einen, während die anderen lieber den Kreisliga-Schlussmann heranzogen, der die Sache wahlweise mit dem Fuß oder mit der Mütze, eventuell auch mit verbundenen Augen geklärt hätte. Die bevorzugte Wendung lautete hingegen im klassischen Ruhrgebietsdeutsch: "Den hätte meine Omma gehalten."
Beim Anblick von Schwolows Missgeschick mochte man glauben, dass die Tragweite des Vorgangs mit dem simplen Begriff Torwartfehler unzureichend erfasst wäre. Ein Torwartfehler ist ein Torwartfehler - dieser aber schien viel schlimmer zu sein. Dennoch stand nach dem unvermeidlich hochdramatischen 2:2 zwischen Schalke 04 und Eintracht Frankfurt der 30 Jahre alte Schwolow mit allen anderen Mitspielern am Zaun vor der Nordkurve und wurde genauso mit Applaus und Herzlichkeit überschüttet wie alle anderen, und selbstverständlich war das gut und richtig so.
Thomas Tuchel und der FC Bayern:Ein Trainer in Wut
Die Bayern lassen das 1:3 gegen Leipzig über sich ergehen, Thomas Tuchels Zorn ist riesengroß. Und nach dem Sieg des BVB geht es in München nun auch um die Frage, wie man in die neue Saison gehen soll - und warum schon der dritte Trainer verzweifelt.
Ja, Schwolow fiel in Zeitlupe, während der Ball in realer Zeit auf sein Tor kam. Er hatte gravierend gepatzt und damit die frühe Führung zunichtegemacht, mit der Simon Terodde in der ersten Spielminute nicht nur die Leute im Stadion, sondern auch den Gegner beeinflusst hatte. Die einen stimulierend, die Frankfurter merklich spaßbremsend. Resultatsvorteil, Heimvorteil, ein Matchball für Schalke 04 war jetzt jederzeit möglich, das 1:0 hätte Grundlage für einen großen Wurf im Abstiegskampf sein können. Später behauptete Eintracht-Trainer Oliver Glasner, seine Mannschaft habe "eine Wahnsinns-Energieleistung" aufgewendet, um den frühen Rückschlag auszugleichen - den Anteil des gegnerischen Torhüters höflich verschweigend.
Doch wenn Schalke am kommenden Samstag im Zuge des Pflichtspiels bei RB Leipzig das Ziel nicht erreichen sollte und wieder in die zweite Liga gehen müsste, dann wäre nicht Schwolow schuld, der als nicht unumstrittener Stellvertreter des zur Rückrunde glanzvoll zurückgekehrten und dann wieder verletzt ausgeschiedenen Ralf Fährmann ohnehin einen schwierigen Stand hatte. Im Moment des besagten Gegentors war er unter den mehr als 60 000 Zuschauern ein einsamer Mensch. Aufgeweckt allenfalls durch ein wütendes Anfauchen durch Mitspieler Rodrigo Salazar. Was Schalkes Trainer Thomas Reis nicht gefallen hat: "Wenn Rodri was zu Schwoli sagt - ich denke, es ist gut, wenn man erst mal seine eigenen Leistungen begutachtet."
Trainer Reis stellt auch den Schadensfall als Gemeinschaftswerk dar
Die These vom Einzeltäter hat Reis gleich zurückgewiesen und den Schadensfall als Gemeinschaftswerk dargestellt. Der Trainer verwies auf die teaminterne "Fehlerkette", die dem Treffer von Daichi Kamada vorangegangen war: dass seine Leute den Frankfurter Angriff nicht besser bekämpft hatten, und dass sie Kamada im Zentrum vor dem Strafraum hatten gewähren lassen. Schwolows Beitrag würdigte er ebenfalls, und zwar in einem typisch trockenen Reis-Kommentar: "Er kann den Ball entschärfen, das hat nicht stattgefunden."
Zum Bestandteil der Fehlerkette rechnete Reis auch den Schiedsrichter Daniel Schlager, der es ablehnte, Kamadas Treffer zu annullieren. Als Schlager vom Videoassistenten zum Studium der Vorgeschichte an den Monitor gebeten wurde, habe er sich nicht nur "eine andere Entscheidung gewünscht", erklärte Reis - er habe sie auch erwartet: Schließlich habe sich der Kölner Keller ja aus gutem Grund gemeldet. Die strittige Szene trug sich nahe der Grundlinie in der Frankfurter Hälfte zu, als Frankfurts Verteidiger Christopher Lenz Anleihen bei der laufenden Eishockey-Weltmeisterschaft nahm und Schalkes Cédric Brunner mit einem Bodycheck in die Bande schickte, den Ellbogen in die Rippen drückend. Übertriebene Härte und damit Strafbank für Lenz? So sah es aus.
Schlager, der große Probleme hatte, mit dem nervösen Geschehen souverän umzugehen, wollte jedoch keine Straftat erkennen. "Grenzwertig" sei der Fall gewesen. "Man kann auf Foul entscheiden, aber es gab für mich keinen Grund, das Tor zurückzunehmen." Nun, abgesehen davon, dass derselbe Herr Schlager den Schalkern später nach Henning Matriccianis kritischer Grätsche gegen Aurélio Buta einen Elfmeter ersparte, hatte Reis kein Interesse an Sonder-Debatten. Spiel vorbei, das Drama geht weiter. "Hilft ja nix", sagte er mehrmals.
Sein Team hatte ihm wieder Stolz und Frust zugleich beschert. So waren nach dem 1:0 augenscheinlich nicht alle Spieler bereit, weiterhin resolut das Glück zu erzwingen wie Mittelfeldmotor Alex Král, Torjäger Terodde oder Linksaußen Kenan Karaman, der sich überraschend zu einer starken Figur im Team entwickelt hat. Das Aufbäumen nach Frankfurts 2:1 durch Tuta hat dann aber wieder allen imponiert, auch dem Trainer. Die Mannschaft besitzt Haltung, deswegen wird sie vom Schalker Publikum gefeiert wie ein Winner-Team, und deshalb vermag sie einen spielerisch überlegenen Gegner wie Eintracht Frankfurt herauszufordern. Saisonentdeckung Henning Matricciani, der Mann mit dem Physiotherapeuten-Diplom, war auch am Samstag wieder im Volksheldenmodus und leitete sogar den Ausgleich ein. Die eingewechselten Tobias Mohr und Sebastian Polter vollendeten (85.).
Der verdiente Lohn und trotzdem ein dünner Ertrag. Zumal mit Aussicht auf die Reise nach Leipzig. "Es wird mit Sicherheit schwer, keiner traut uns was zu", sagte Reis. Ängstlich hörte er sich allerdings nicht an. Schalke hat noch eine kleine Chance. "Wir werden die Woche hart arbeiten und gewinnen dann in Leipzig", wagte Sebastian Polter, auf einmal ein Schalker Wortführer, zu prophezeien. Kein schlechter Anlass übrigens für Alexander Schwolow, das Spiel des Lebens hinzulegen.