Clemens Tönnies, 64, ist in all den Jahren vieles nachgesagt worden von den Leuten, die in Diensten von Schalke 04 standen: Gutes und auch weniger Gutes. Was aber nie einer behauptet hat: Dass Tönnies ein exzellenter Fußballfachmann wäre. Das hat ihn in seiner Eigenschaft als Aufsichtsratsvorsitzender aber nicht daran gehindert, das Führungspersonal seines Vereins immer wieder mit sachdienlichen Hinweisen zu versorgen. Manchmal ging es dann um einen Innenverteidiger, von dem ihm jemand erzählt hatte, dass er für Schalke wie gemacht und ein absolutes Sonderangebot wäre. Manchmal auch um den Trainer, von dem Tönnies nicht mehr überzeugt war. Für den jeweiligen Manager war es dann nicht immer von Vorteil, wenn er den Ratschlag ignorierte.
Wäre Tönnies noch im Amt, dann wäre ein Anruf aus Rheda-Wiedenbrück, wo die Fabriken des langjährigen Schalke-Funktionärs stehen, in der Klubzentrale am Ernst-Kuzorra-Weg keine Überraschung. Die Lage ist bekanntlich nicht erst seit dem 0:8 beim FC Bayern kritisch. Aber Tönnies ist am 30. Juni zurückgetreten, es steht ihm - noch weniger als früher - nicht mehr zu, mitzureden, wenn sportliche Entscheidungen zu treffen sind, die für den Verein von elementarer Bedeutung sind. Oder hat man sich da getäuscht und die alten Beziehungen sind immer noch aktiv?
Dass Tönnies am Freitagabend auf Einladung seines Freundes Uli Hoeneß bei der Saisonpremiere in München im Stadion saß, hat für große Unruhe gesorgt. Nicht nur in der königsblauen Anhängerschaft, sondern auch in der Führungsriege des Vereins, die sich auf einmal Gedanken über die Sitzordnung machen musste. Schließlich nahm Tönnies neben dem Technischen Direktor Michael Reschke Platz, während die Vorstände Alexander Jobst und Jochen Schneider und der Aufsichtsratschef Jens Buchta eine Reihe darunter die Reihe schlossen. Der ehemalige Boss neben den operativen Spitzenvertretern, dieses Bild sollte dringend vermieden werden.
Viel Gerede gab es trotzdem in der öffentlichen Nachbetrachtung. Während Kommentatoren meinten, der Auftritt des früheren Vereinsoberhauptes inmitten der Schalker Delegation sei mindestens unsensibel und provokant, mutmaßten andere, dass Tönnies somit sichtbar zum Ausdruck gebracht habe, dass er auch ohne Amt weiterhin an vorderer Stelle der Rangordnung stehe. Frühere Gefolgsleute aus der Mitte des Vereins bestreiten diese Theorie allerdings energisch. Clemens Tönnies habe keinen Einfluss mehr und werde auch in keiner Weise einbezogen in die Arbeit des ihm einst loyal ergebenen Gremiums, so wird versichert.
Rendezvous zweier altvertrauter Krisenteams
Dies bedeutet andererseits, dass Schalke nicht mehr, wie es früher schon der Fall war, bei Tönnies vorstellig werden kann, um sich in schwierigen Zeiten mit dem nötigen Geld für akute Operationen zu versorgen. Wenigstens leihweise. Eine solche Operation wäre die Trennung von Cheftrainer David Wagner, 48, die Schalke teuer zu stehen käme. Der stattlich dotierte Vertrag des nicht erst seit dem Münchner Desaster umstrittenen Cheftrainers endet in zwei Jahren, entsprechende Unterhaltszahlungen an Wagner würden den finanziellen Spielraum noch mehr beschränken.
Sportvorstand Schneider hat demnach wenig Anlass, sich auf das nächste Wochenende zu freuen, an dem Schalke den SV Werder zum Spitzenspiel der umgedrehten Tabelle empfängt. Der 18. trifft den 16., es ist das Rendezvous zweier altvertrauter Krisenteams, und Schneider hat die Erwartung geweckt, anschließend eine Antwort auf die selbstgestellte Trainerfrage zu geben. Wagner stand schon nach der unvergleichlich ruhmlosen Rückrunde in der Kritik. 16 Spiele ohne Sieg, das hatte vor ihm noch kein Trainer in Gelsenkirchen geschafft, nicht mal in den Achtziger Jahren, in denen Schalke dreimal in die zweite Liga abstieg. Dennoch hielt Schneider allen Debatten stand und gab Wagner die Chance, die Arbeit fortzusetzen. Nach dem 0:8 in München hat er diese Entscheidung selbst in Frage gestellt.
"Indiskutabel" sei die Leistung gewesen, erklärte er in einem vom Verein verbreiteten Kommuniqué, aber das war nur die Einleitung einer Ansage, die allenthalben als Ultimatum an Wagner verstanden wurde. "Ich erwarte eine deutliche Leistungssteigerung, die sich auch im Ergebnis widerspiegelt", gab er zu Protokoll - ein Satz, der ihm nicht im Affekt herausgerutscht ist, sondern mit genügend Abstand zu den schockierenden Eindrücken vom Vorabend formuliert wurde. Was will er sagen, wenn sich weder das Bild noch das Ergebnis bessern sollten?
Wagner hat am Freitag bereits auf seine Art Position bezogen, als er der Mannschaft vorhielt, sie habe sich "naiv" betragen, als sie auch im Angesicht des hohen Rückstands das Heil im Angriff suchte, anstatt Schadensbegrenzung zu betreiben. So redet sich üblicherweise ein Trainer in fortgeschrittener Saison den Ärger von der Seele, wenn er auf Distanz zur Mannschaft geht. Abgesehen davon, dass er recht hatte mit der Beschreibung des Fehlverhaltens: Es ist immer noch zuerst die Aufgabe des Trainers, dafür zu sorgen, dass die Mannschaft nicht ins Verderben rennt.
Über Wagners Verbleib oder Nicht-Verbleib entscheidet nun wohl nicht nur dessen sportfachliche Eignung. Es geht für Schneider - abgesehen von einer überzeugenden Alternative - auch darum, das Gesicht zu wahren, nachdem er die Chance verpasste, im Juli einem anderen Mann die Saisonvorbereitung anzuvertrauen. Auf Rückendeckung aus Rheda-Wiedenbrück braucht er dabei nicht zu hoffen.