Schalke 04 und seine Fans:"Wir sind Schalker, und ihr nicht!"

FC Schalke 04 - SC Paderborn

Beschimpfungen aus der eigenen Kurve für die Schalker.

(Foto: dpa)
  • Trotz des Sieges gegen Paderborn spüren die Schalker Spieler die Feindseligkeit auf der Tribüne.
  • Es geht diesmal um mehr als einen konventionellen Liebesentzug.
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Von Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

Treffpunkt am Sonntag um zwölf war Gelsenkirchens Hauptbahnhof, von dort ging es nach Essen, wo Schalkes U23-Team in der Regionalliga gegen den FC Kray spielte. Danach mit eigens gecharterten Bussen zurück nach Gelsenkirchen, um in der Arena die A-Junioren im Meisterschaftshalbfinale gegen den Karlsruher SC anzufeuern. Einen herrlichen königsblauen Fußballsonntag hatten die Ultras also organisiert. Wenngleich einem die Freizeitplanung nach den jüngsten Ereignissen schon etwas seltsam vorkommen mochte. Hatten nicht dieselben Schalker Fans noch am Samstagnachmittag die Schalker Spieler als "Scheiß-Millionäre" (und Schlimmeres) beschimpft, während diese sich zum 1:0-Sieg gegen den SC Paderborn mühten und damit den Zugang zur Europa League sicherten?

In der Vorstellung der Schalke-Fans wird derzeit zwischen guten und bösen Schalke-Mannschaften unterschieden. Zu den Guten gehören die sogenannten Amas aus der Regionalliga, die zwar keine Amateure sind, aber zumindest auch keine hochdotierten Profis, die ihre Luxusautos spazieren führen (wenn sie sie nicht gerade zu Schrott fahren) und sich ansonsten sorglos in den sogenannten sozialen Netzwerken zur Schau stellen - so wie es am Samstagnachmittag der in Unehren verbannte Star Kevin-Prince Boateng machte, als er ein Bild vom lustigen Eisenbahnfahren mit der kleinen Tochter verbreitete.

Der Einzige, den das wütende Volk derzeit akzeptieren mag, ist Torwart Fährmann

Die anderen Guten sind die (noch) unschuldigen A-Junioren, die gerade zum vierten Mal in ihrer Staffel westdeutscher Meister wurden. Eine böse Schalke-Mannschaft ist hingegen das Profiteam, das diese Wahrnehmung am Samstag auch heftig zu spüren bekam. Dieses moralische Weltbild der Schalke-Fans mag zwar ein ziemlich schiefes und verklärtes sein, aber die Macht der Gefühle ist in diesem Verein schon immer die stärkste Macht gewesen. Und das vorherrschende Gefühl äußerte sich nun in dem härtesten Vorwurf, den die Gläubigen in diesem Klub erheben können: "Wir sind Schalker, und ihr nicht!"

Dies war also mehr als der konventionelle Liebesentzug für Fußballer, die zuletzt die nötige Leidenschaft hatten vermissen lassen. Es war ein riesiger, das ganze Stadion ergreifender Volksaufstand, wie er selbst in Schalke noch nie vorgekommen war. Er richtete sich gegen alle Protagonisten: Spieler, Trainer, Manager und - namentlich voran - den Aufsichtsratschef und Big Boss Clemens Tönnies, dem die schärfsten Schmähungen gewidmet wurden.

"Es war eine sehr emotionale Kiste, meine bislang schwierigste Partie auf Schalke", stellte Torwart Ralf Fährmann fest, der 2003 aus Chemnitz nach Gelsenkirchen kam und dort zum Herzensschalker reifte. Der einzige allerdings, den die zornigen Fans derzeit akzeptieren mögen; "außer Fährmann könnt ihr alle gehen", riefen sie in Richtung der aufrichtig entsetzten Huntelaar, Draxler und Co. "Passende Worte kann es nicht geben", sagte Fährmann, als er nach einer Lösung gefragt wurde, "das sind die puren Emotionen, und wenn das Fass überläuft, passiert so etwas."

Aggressive Ablehnung auf den Rängen

Schon zum Aufwärmen wendeten sich die Anhänger von den Profis ab, mit dem Anpfiff herrschte - wie es annähernd 200 Fanklubs verabredet hatten - für eine komplette Halbzeit verächtliches Schweigen. Die Mannschaft reagierte prompt - mit grotesken Fehlleistungen und Stolperkombinationen, die selbst im Freizeitfußball unverzeihlich wären. Viele Spieler zeigten sich überfordert, "die Stimmung war sehr merkwürdig", gab der empfindsame Verteidiger Joel Matip bekannt. Den ersten schlimmen Fehlpass spielte er nach 16 Sekunden - es sollten etliche folgen.

Auf den Rängen quittierte man das Misslingen mit noch mehr aggressiver Ablehnung. "Wir haben versucht, die Mannschaft darauf vorzubereiten, aber man hat gesehen, dass sie es mental nicht wegblenden konnten", so Manager Horst Heldt. Das hilflose Bemühen war durchaus mitleiderregend, aber Mitleid wurde nicht gewährt. Und je grimmiger das Publikum zu den Anstrengungen schwieg, umso schlimmer kam es. Diese Schalker schienen eher ein Fall für Professor Sigmund Freud zu sein, als für einen Fußball-Lehrer. Trainer Roberto Di Matteo schaute dem Treiben ohnmächtig zu, und zwischendurch musste er hören, wie die Leute seinen Vorvorgänger Huub Stevens feierten, als dessen Stuttgarter in Führung gingen.

Di Matteos Wechsel zur zweiten Halbzeit - Draxler und Goretzka anstelle der indisponierten Kirchhoff und Choupo-Moting - belebten das Schalker Spiel ein wenig, aber es blieb ein konfuser Auftritt in feindseliger Atmosphäre. Nur ein einziges Mal gab es Beifall - als Benedikt Höwedes verletzt vom Platz humpelte (Diagnose: Sprunggelenksverletzung, Saison beendet). Plötzlich, als niemand mehr damit rechnete, fiel das 1:0. Durch ein Eigentor. In der 88. Minute. Aber dieser unverdiente sportliche Lohn machte das Publikum nur noch wütender.

Nach dem Abpfiff suchten die Schalker Spieler Zuflucht in der Kabine, nach zehn Minuten kehrten sie zurück und stellten sich dem Volkszorn. "Der Trainer und die Spieler haben das gemeinsam entschieden", teilte Manager Heldt mit. Die Mannschaft drehte tatsächlich eine komplette Runde übers Spielfeld, und das war bestimmt eine der bizarrsten Ehrenrunden der Vereins- und der Fußballgeschichte, denn es waren zwar viele Zuschauer geblieben, aber keineswegs um Applaus zu spenden. Stattdessen wurden Bierbecher nach den Profis geworfen, und es wurde mit einer solchen Passion geschimpft, als ob ein jahrelang still ertragener Ehekrieg plötzlich zum Ausbruch gekommen wäre. "Es war nicht angenehm", sagte Trainer Di Matteo in der ihm eigenen reservierten Art. "Aber es war wichtig, dass wir rausgegangen sind und uns gezeigt haben."

Di Matteo wird dazu trotz zweifelhafter Akzeptanz und Wirkung auch weiterhin Gelegenheit erhalten. Heldt versicherte, mit dem Schweizer weiterarbeiten zu wollen. "Es liegt an uns, die Herzen zurückzugewinnen", sagte der Manager bedrückt, "aber die sind erst mal verloren gegangen."

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