Süddeutsche Zeitung

Schalke 04:Anflüge von Wehmut

Beim Versuch, Einkäufe von Ex-Sportvorstand Heidel zu veräußern, tut sich wenig - damit fehlt Geld für Zugänge. Für ein Hochgefühl sorgt das Trainerteam um David Wagner.

Von Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

Sicherlich wäre es übertrieben, die Stimmungslage beim FC Schalke 04 als euphorisch zu bezeichnen, aber in Kreisen der Eingeweihten hat sich der Eindruck durchgesetzt, dass der Klub noch nie ein so starkes Team hatte wie diesmal. Tatsächlich hat Schalke in diesem Sommer weit gereiste Spezialisten für fast jede Lebenslage verpflichtet; das neue Team, so berichtete der erfahrene Verteidiger Bastian Oczipka, vereine "so viel Kompetenz - die müssen wir einfach nutzen".

Was dem Hochgefühl entgegensteht, ist die Tatsache, dass es sich bei den viel gerühmten Schalker Zugängen nicht um neue Fußballer handelt, sondern vornehmlich um ehemalige Fußballer. Dazu gehört der von Dynamo Dresden hinzugezogene Psychologe Sascha Lense, 43, der in der zweiten Liga für den FSV Zwickau und die SpVgg Unterhaching tätig war. Oder der Integrationsbeauftragte Massimo Mariotti, 57, der einst an der Seite von Lothar Woelk und Ewald Lienen für den MSV Duisburg verteidigte. Gelobt wird auch Co-Trainer Matthias Kreutzer, 36, der zwar keine Lizenzspieler-Laufbahn aufweist, aber in seinen Jahren beim Hamburger SV durch die härteste Schule ging, unter anderem als Assistent des berüchtigten Bernd Hollerbach. Besonders lebhaft begrüßt werden ferner die Engagements des Technischen Direktors Michael Reschke, 61, des Cheftrainers David Wagner, 47, und des Teammanagers Sascha Riether, 36. Die Ansammlung neuer Fachkräfte nahm Oczipka zum Anlass für eine interessante Äußerung zum Stand der Saisonvorbereitung: Er wisse noch nicht, was sich auf dem Platz ändern werde - "aber wir haben auf jeden Fall viel mehr Personal drumherum".

Dieses bewusst aufs Faktische beschränkte Zwischenfazit deutet darauf hin, dass Kenner und Beteiligte die Situation beim im Vorjahr fast abgestiegenen Ruhrgebietsverein noch als unübersichtlich einschätzen. Dass Oczipka mit seiner vorsichtigen Bewertung richtig lag, bewies der Auftritt seiner Elf am vorigen Wochenende. Beim 1:2 gegen den Premier-League-Aufsteiger Norwich City war von sportlichen Neuerungen noch nicht viel zu sehen (am Dienstagabend folgte ein 1:1 bei Twente Enschede). Wohl aber von alten Gewohnheiten, von denen man Abstand nehmen möchte. Abgesehen von den defensiven Problemen fiel wieder auf, dass sich Schalke mit systematischem Offenspiel schwertut. Dass ein Schalker Stürmer beim Treffen mit Norwich der herausragende Mann war, rief keinen Trost, sondern Anflüge von Wehmut hervor - der besagte Spieler war der frühere Königsblaue Teemu Pukki, den man vor sechs Jahren für 2,5 Millionen Euro an Celtic Glasgow veräußerte.

Wagner analysierte das Spiel sowie den Stand der Dinge auf seine Weise: weder dramatisierend noch beschönigend. Er sei "noch weit weg von zufrieden", bemerkte er deutlich, aber unaufgeregt. Bisher erleben die Schalker ihren Trainer als einen lebensfrohen, mitreißend positiv gestimmten Mann mit hoher Toleranzschwelle für die Zumutungen dieses heiklen Jobs. So erträgt er es gelassen, dass ihn die Medien regelmäßig mit den Synonymen "der Klopp-Trauzeuge" oder "der Kloppo-Kumpel" versehen. Dass er unentwegt auf seinen alten Freund Jürgen Klopp angesprochen wird, konnte der guten Beziehung zum Coach des FC Liverpool ebenso wenig anhaben wie dessen Empfehlung, das Angebot aus Gelsenkirchen anzunehmen.

Der Integrationsbeauftragte Massimo Mariotti soll Amine Harit in alte Form bringen

Wagner wird damals nicht exakt gewusst haben, worauf er sich einließ, als er dem Angebot seines Ex-Vereins erlag, aber er hatte eine sehr konkrete Ahnung davon, dass er keinen Titelkandidaten betreuen würde - worin er sich inzwischen hinreichend bestätigt sieht. Glücklicherweise wird seine Einschätzung im Klub geteilt. Selbst Vereinschef Clemens Tönnies, der im Sommer traditionell zu verkünden pflegte, in der neuen Saison werde Schalke "wieder richtig angreifen", schwor die Fans auf magere Zeiten ein. In den nächsten beiden Jahren werde man sich womöglich nicht für Europa qualifizieren, erklärte Tönnies der Glocke und offenbarte damit überraschende Sachkenntnis.

Wagner steht also im Zentrum eines Langzeit-Projekts, das Schalke auf neuen Wegen zu verwirklichen sucht. Diesmal versucht man es mit Verstand. So systematisch und funktionell, wie sich der Klub jüngst organisiert hat, kennen ihn die engsten Vertrauten nicht. Nun enthüllen sich aber auch die alten Versäumnisse. Die Praxis des vormaligen Sportvorstands Christian Heidel, dem Trainer Domenico Tedesco quasi in Eigenregie den Aufbau der Mannschaft zu überlassen und den Rest an den sogenannten Sportdirektor Axel Schuster zu delegieren (was dieser "nicht mal hätte schaffen können, wenn er ein Schweizer Taschenmesser wäre", wie ein Kenner sagt), hat zur Folge, dass der Verein im Fußballgeschäft weit zurückgefallen ist. Während Klubs wie Eintracht Frankfurt, Mainz 05 oder die TSG Hoffenheim mit ihren Transfers zig Millionen erwirtschaften, müssen die Schalker lauter teure Profis bezahlen, die sie gern verkaufen würden. Doch beim Versuch, die Heidel-Erwerbungen Bentaleb, Mendyl und Konoplyanka zu veräußern, tut sich wenig, und damit fehlt das Geld für Neu-Einkäufe. So gewinnt ein Transfer wie der des Integrationshelfers Mariotti an Bedeutung: Durch seine Fürsorge soll er dazu beitragen, den im Vorjahr vom Weg abgekommenen Franzosen Amine Harit in alte Form zu bringen. Bei Borussia Dortmund war Mariotti das in gleicher Funktion schon mit einem anderen Einwanderer aus Frankreich geglückt. Pierre-Emerick Aubameyang und der BVB sind ihm bis heute dankbar dafür.

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SZ vom 24.07.2019
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