Süddeutsche Zeitung

Schach-WM:Weiße Figuren bringen's nicht

Erst ein sieben Stunden und 115 Züge dauernder Marathon, anderntags ein raffiniertes Turm-Manöver: Weltmeister Carlsen und Herausforderer Caruana liefern sich ein bemerkenswertes Auftakt-Wochenende.

Von Johannes Aumüller, London

Völlig konzentriert saßen die Kontrahenten schon am Tisch, da ereignete sich ein seltsames Malheur. Es gehört bei Schach-Weltmeisterschaften zur Tradition, dass den ersten Zug immer ein mehr oder weniger prominenter Gast ausführt, und diesmal durfte das der Schauspieler Woody Harrelson tun, bekannt unter anderem aus dem Film "Weiße Jungs bringen's nicht". Doch als Harrelson nach den Figuren griff, warf er erst mal Fabiano Caruanas weißen König um - im Schach gemeinhin das Zeichen für die Aufgabe. Danach rückte er auch noch den d-Bauern vor, obwohl Caruana angesagt hatte, er solle den e-Bauern bewegen. Der Amerikaner durfte das zwar korrigieren, aber die Nervosität vor seinem ersten WM-Kampf schien das zu steigern - während sein Gegenüber Magnus Carlsen in dieser Szene lächelte.

Weltmeister Carlsen, 27, gegen Herausforderer Caruana, 26, das ist ein Duell, von dem sich die Schachwelt eine Menge erwartet. Das Auftakt-Wochenende verlief diesbezüglich recht vielversprechend: Erst gab es einen sieben Stunden und 115 Züge langen Marathon, in dem Carlsen mehrere Siegchancen verpasste. Anderntags überraschte Caruana in der Eröffnung mit einem seltenen Turm-Zug, der Carlsen schwer zu schaffen machte. Aber letztlich endeten beide Partien remis, und so geht es am Montag (ab 16 Uhr, live auf sz.de/schachliveticker) mit einem 1:1 in die nächste der insgesamt zwölf Partien.

Durchblick nur in eine Richtung: Eine große Glasscheibe trennt die Spieler vom Publikum

Es ist eine durchaus bemerkenswerte Atmosphäre, in der dieser Zweikampf steigt. Das College in Holborn, ein viktorianisches Gebäude im Zentrum Londons, haben der Schach-Weltverband Fide und die mit ihm auf intransparente Art verbandelte Agentur Agon als Austragungsort ausgeguckt. Dort sitzen in einem etwa 75 Quadratmeter großen Raum die beiden Kontrahenten hinter dem Tisch mit dem Schachbrett, außerdem gibt es zwei Sessel zum Hinfläzen und in den Ecken zwei Tische für die Schiedsrichter - mehr ist da nicht.

Fotografen dürfen nur für die ersten fünf Züge und Zuschauer überhaupt nicht in den Spielraum, weil das sonst zu sehr stören würde. Dafür ist an der einen Seite des Raumes eine große Glasscheibe angebracht, absolut schalldicht, heißt es, und wer von innen durchs Glas schaut, kann weiter nichts erkennen; nur in die andere Richtung herrscht Durchblick. Auf der anderen Seite der Scheibe ist das sogenannte Auditorium für das Publikum, ein abgedunkelter Raum, in dem strenges Handy-Verbot herrscht. Am Eingang verteilt die Security sogar Plastiktüten, in denen das Mobiltelefon verstaut werden muss.

Ungefähr 150 Personen passen ins Auditorium, aber Agon hat für den Samstag ungefähr 300 Eintrittskarten verkauft. Das führt dazu, dass die Zuschauer sich immer wieder Halbstunden-Tickets holen und dann wieder den Saal verlassen müssen, was schon eine "kleine Unannehmlichkeit" sei, wie Agon-Chef Ilja Merenzon zugibt. Aber er hat ohnehin Statistiken parat, nach denen bei vergangenen WM-Kämpfen die Zuschauer nur acht Prozent ihrer Besuchszeit im Auditorium verbracht hätten und den Rest anderswo im Gebäude.

Statistiken und Zahlen von Fide und Agon sind zwar traditionell mit Vorsicht zu genießen. Aber es dürfte zweifelsfrei eine richtige Annahme sein, dass es die Zuschauer bei aller Faszination auch mal nach Abwechslung drängt, wenn sie stundenlang zwei Menschen beim Nachdenken zusehen. Im Foyer und in ein paar anderen Räumen des Colleges hängen Monitore; Großmeister wie die Ungarin Judith Polgar erläutern am Computer sehr anschaulich, warum wohl gerade welcher Akteur welcher Zug gemacht hat und über welche Varianten jetzt nachgedacht wird.

Bei Caruana tickt die Uhr einmal sogar bis auf sechs Sekunden herunter

Dabei hat sie an den ersten Tagen besonders viel zu erklären, denn es ist ein aggressiver Start in diesen Kampf - und das Motto lautet fürs Erste "Weiße Figuren bringen's nicht". Interessanterweise ist jeweils der Akteur stärker, der mit Schwarz spielt, dabei gilt das normalerweise als Nachteil. Als es nach Harrelsons Malheur zum Auftakt losgeht, wählt Carlsen die sizilianische Verteidigung. Das führt stets zu scharfen Stellungen und ist das Signal, dass er auf ein Abtasten verzichten will und gleich anzugreifen gedenkt. Der Norweger spielt dann auch ziemlich stark, Caruana wiederum denkt und rechnet sehr lange, wie er das so oft macht, aber diesmal tut er das so lange, dass er in Zeitnot gerät. 1:40 Stunden haben die beiden Akteure für ihre jeweils ersten 40 Züge, für jeden Zug gibt es 30 Sekunden Aufschlag. Und bei Caruana ist es so eng, dass seine Uhr einmal auf sechs Sekunden heruntergetickt ist.

Aber in einigen Momenten verpasst Carlsen die besten Varianten, und so rettet sich Caruana bis zum 40. Zug, nach dem er wieder einen Zeitbonus von einer Stunde bekommt - und nach dem bald eine unentschiedene Stellung entsteht. Carlsen macht zwar noch seinem Ruf alle Ehre, dass er selbst solche Stellungen bis ultimo wälzt, aber bei Zug 115 hat selbst er genug. Den ausgelassenen Chancen trauert er angeblich nicht nach, tut er später kund, er schaue "immer nur nach vorne". Aber richtig glaubhaft klingt das nicht.

Am zweiten Tag überrascht dann Caruana in einer Eröffnung namens abgelehntes Damengambit, als er in seinem zehnten Zug den Turm nach d8 schiebt. "Oh Mist", habe er dabei gedacht, gesteht Carlsen nachher. Er findet zwar eine sichere Variante, um den möglichen Fallen dieses Zuges zu entgehen; aber er ahnt, dass ihm im Laufe des Wettkampfes solche Überraschungen noch häufig blühen. Caruana und sein Sekundantenteam um den Usbeken Rustam Kasimdschanow sind berüchtigt dafür, in der Vorbereitung auf ein Turnier solche Züge zu finden. Und womöglich setzt sich auch der Trend fort, dass die Spieler mit Schwarz die Partien prägen. "Mit dem Computer findet man immer neue Züge, die bisher nicht als spielbar galten", sagt Fabiano Caruana.

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Quelle:
SZ vom 12.11.2018
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