Zu verführerisch ist offenbar der Gedanke, das Spiel schwarz-weiß zu sehen, das Brett als Kampfplatz zweier Mächte, verdichtet auf 64 Feldern. Die Geschichte der Schachweltmeisterschaften hat dies schon oft gezeigt. Nun hat Sergej Karjakin verloren, und die Analysen dieser Niederlage konzentrieren sich schnell wieder auf das Schachspiel selbst. Es hat eben nicht ganz gereicht für einen Triumph über den Sport hinaus.
Karjakin wäre für einen solchen Triumph eine geeignete Symbolfigur gewesen. Seine Eltern haben in der Krim-Hauptstadt Simferopol bis fast drei Uhr in der Nacht die Daumen gedrückt. Er selber war schon 2009 fortgegangen von der Halbinsel, weil die Ukraine ihn nicht genügend fördern konnte. Lange vor der Annexion durch Russland hatte Karjakin also schon einen russischen Pass, aber er postete nach dem Anschluss auch demonstrativ ein Foto von sich auf der Krim, samt Putin-Bild auf dem T-Shirt. Die Schachkrone in Russland, wo sie Karjakin zufolge auch hingehört, hätte der Patriotismuswelle sicher neue Kraft gegeben - wie so oft in der Vergangenheit.
Das Streben nach Überlegenheit, und das in Zentimeterdistanz, ist schon vor Jahrzehnten politisch hochgewertet worden. In den Dreißigerjahren scharwenzelten sowjetische Parteifunktionäre um den genialen und vom Kommunismus überzeugten Schachspieler Michail Botwinnik, der später viele Jahre lang Weltmeister war. Auf seinen Lenin-Orden war das Land vermutlich so stolz wie der Spieler selbst.
Das Match des Jahrhunderts ging überraschend an den Amerikaner
Dass der Schachweltmeister aus der Sowjetunion kommt, war jahrzehntelang ein ungeschriebenes Gesetz, an das sich Bobby Fischer dann allerdings nicht halten wollte. Im sogenannten Match des Jahrhunderts besiegte der Amerikaner 1972 Titelverteidiger Boris Spasskij und traf damit die Sowjetmacht schmerzvoll ins stolze Herz. US-Präsident Richard Nixon, auch er voller Opportunismus, hatte Fischer Mut gewünscht, "im Namen aller Amerikaner und der freien Welt".
Obwohl stets nur ein paar Bauern trippelten, Läufer schräg und Türme gerade gezogen wurden - immer wieder galt die WM auch als Ost-West-Konflikt mit anderen Mitteln. Etwa beim Duell Anatolij Karpow gegen Viktor Kortschnoj. Karpow verkörperte den systemtreuen Strategen, Kortschnoj war ein sowjetischer Großmeister, der sich in den Westen abgesetzt hatte. Kaum ein Duell war derart politisch aufgeladen wie jene zwei WM-Finales. Beide Male gewann Karpow.
Dann aber begann die Sowjetunion zu bröckeln, und es gab eine neue Variante der großen Dramen. Anatolij Karpow saß nun dem liberalen Garri Kasparow gegenüber, der als Symbol der Zeitenwende galt. Der hatte Gefallen daran, Schach als Metapher für politische Rivalitäten zu verstehen. Doch auch seine Epoche als unbesiegbarer Weltmeister ist lange vorbei.
Und Karjakin? Zeigt sich als fairer Verlierer. Carlsen habe verdient gewonnen. Jetzt will er sich erst einmal "mit Vergnügen mit der Führung der Krim" treffen - er hat schließlich auch Verpflichtungen jenseits des Spielfelds - und dann, wie er sagt, "mit Schachliebhabern".
Anmerkung: In einer früheren Version des Artikels wurde der aus der Sowjetunion stammende israelische Großmeister Emil Sutowskij mit folgenden Worten aus einem Iswestija-Interview zitiert: "Nennen wir es doch mal geopolitisch", sagt Sutowskij, "heute muss Russland dem Westen in vielen Dingen Widerstand leisten, und dieser Widerstand gibt den Errungenschaften im Schach ein besonderes Gewicht." Die Iswestija hat inzwischen dieses Zitat wie folgt korrigiert: "Russland leistet heute dem Westen in vielen Dingen Widerstand".