Süddeutsche Zeitung

Schach-WM:Kampf in der Kunsthalle

Viswanathan Anand und Wladimir Kramnik gehen heute beginnende Schach-Weltmeisterschaft wie zwei Boxer an. Bei sueddeutsche.de können Sie alle Partien im Liveticker verfolgen.

M. Breutigam

Box-Champions sagen, Kämpfe mit ebenbürtigen Gegnern werden eher im Kopf entschieden als mit den Fäusten. Hört man die Schach-Champions Viswanathan Anand und Wladimir Kramnik, die ab diesem Dienstag in Bonn zwölf Partien (alle Partien im Liveticker von sueddeutsche.de) um die Weltmeisterschaft spielen, über die Stärken des anderen reden, besteht zumindest an ihrer Ebenbürtigkeit kein Zweifel. Weltmeister Anand sagt, er habe sich monatelang mit Hunderten von Partien seines Vorgängers befasst. Der Inder wollte vor allem die ungewöhnlich tief durchdachten Eröffnungskonzepte des Russen näher kennen und neutralisieren lernen.

Kramnik wird konkret, wenn er über Anand spricht: "Er ist ein unglaublich starker praktischer Spieler. Er ist stark darin, Fallen zu stellen und die Spannung zu halten. Er ist enorm trickreich und versteht es, Druck auszuüben und dann von den Fehlern des Gegners zu profitieren. Auf diesem Gebiet ist er wahrscheinlich der Beste." Fragt man andere, wer in der Bonner Kunsthalle eigentlich Favorit sei, müssen selbst Topgroßmeister passen. Der in Berlin lebende Levon Aronjan vermutet zwar, "dass Anand in den Eröffnungen leiden wird. Er ist aber derart findig, dass ich wirklich nicht weiß, wie das ausgeht". Auch Alexander Grischuk hält die Angelegenheit für völlig offen: "Klar ist nur, dass es sehr spannend wird."

"The Battle of Bonn", wie sie im US-Internetschachklub ICC die WM nennen, wird wohl im Kopf entschieden. Anders als den Boxern bleibt Anand und Kramnik ja ohnehin nur dieses Körperteil zum Kämpfen. Doch abgesehen von ihren im Großhirn aufgetürmten Wissensbergen dürfte das, was daneben geschieht, im Kleinhirn, eine ebenso wichtige Rolle spielen. Die 122-jährige Geschichte der WM-Kämpfe zeigt jedenfalls: Im Ringen um Feinheiten kann schon ein kleines Unwohlsein ins Verderben führen und das seelische Gleichgewicht für die nachfolgenden Partien stören. In solchen Krisen wäre dann vor allem Willenskraft gefragt.

Und Persönlichkeit. Die haben beide, obgleich mit grundverschiedener Prägung. Vor allem ihre Wurzeln sind so andersartig wie die russische und die königsindische Verteidigung. Kramnik, fast sechs Jahre jünger als Anand, wurde im Frühsommer 1975 in der kleinen Stadt Tuapse am Schwarzen Meer geboren. Er stammt aus einer Künstlerfamilie, die im rauen Hafenviertel wohnte. Zu viert lebten Vater, Mutter, der ältere Bruder und Wladimir in einer 30-Quadratmeter-Wohnung. Schon mit fünf Jahren begann Wladimir Kramnik, sich für Schach zu interessieren. Der Vater kaufte ihm eine Partiensammlung des damaligen Weltmeisters Anatoli Karpow. Diese Wahl sollte Kramniks strategischen Stil stark beeinflussen.

Anand wuchs in der südindischen Millionenmetropole Madras (heute Chennai) auf. Seine wohlhabende Familie gehört zur obersten Kaste der Brahmanen. Schach erlernte Anand mit sechs Jahren und bald begann er, es mit einer nie gesehenen Leichtigkeit zu spielen. Diesem Aristokratenkind schien alles zuzufallen. Er zog blitzschnell. Früher verbrauchte er selbst gegen starke Großmeister gelegentlich nur eine Viertelstunde Bedenkzeit, obwohl ihm mehr als drei Stunden zur Verfügung standen.

Flitterwochen in Dortmund

Doch es gibt auch Gemeinsamkeiten: Anand und Kramnik haben beide einen Bezug zum Gastgeberland. Anand spricht Deutsch, spielt für den deutschen Meister OSG Baden-Baden und verbringt jedes Jahr ein paar Wochen in Bad Soden. Kramnik hat einen Manager aus Dortmund. Ausgerechnet dort verbrachte Anand einst die Flitterwochen mit seiner Frau Aruna, die mittlerweile auch seine Managerin ist. Damals, im Jahr 1996, fand in Dortmund ein Schach-Turnier statt.

Ein Jahr danach wurde Anand von der jungen, französischen Journalistin Marie-Laure Germon interviewt. Davon gibt es einen kleinen Dialog, der als Video festgehalten ist. ,,Von wem haben Sie Schach gelernt?'', wollte Germon wissen. ,,Von meiner Mutter.'' Überrascht fragte die Journalistin nach: ,,Von Ihrer Mutter? Sie spielt Schach?'' - ,,Ja'', antwortete Anand und grinste. Einige Jahre später interviewte Marie-Laure Germon für die französische Zeitung Le Figaro auch Wladimir Kramnik. Heute sind die beiden verheiratet und leben in Paris.

Am Sonntagnachmittag haben Viswanathan Anand und Wladimir Kramnik schon mal das Licht und ihre Stühle in der Bundeskunsthalle überprüft und die passenden Holzfiguren ausgewählt. Als endlich alles gesagt und getan war, rief Kramnik einen anderen Experten in Sachen Kopf- arbeit an: Vitali Klitschko. Kramnik wollte seinem Freund Glückwünsche zum Comeback als Box-Weltmeister bestellen.

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Quelle:
SZ vom 14.10.2008
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