Für einige besonders spektakuläre Partien aus seiner Geschichte hat sich der Schachsport mal einen sehr ehrenvollen Titel einfallen lassen. "Unsterbliche" heißen diese seltenen Duelle, in denen eine Kombination oder ein Figuren-Opfer so phänomenal waren, dass sie niemals vergessen werden sollen. So gibt es etwa die polnische Unsterbliche, Rubinsteins Unsterbliche oder Kasparows Unsterbliche, und insbesondere die Original-Unsterbliche aus dem Jahr 1851, als der Großmeister Adolf Anderssen gegen seinen Rivalen Lionel Kieseritzky die Dame und beide Türme herschenkte, um zu gewinnen.
Als der amtierende Weltmeister Magnus Carlsen und sein Rivale Jan Nepomnjaschtschi am Freitag in Dubai die sechste Partie ihres WM-Zweikampfes bestritten, da waren nicht die eine brillante Kombination oder das eine spektakuläre Opfer der prägende Moment des Abends. Aber auf ihre Art hat diese Partie wohl auch das Recht, zu den Unsterblichen gezählt zu werden.
Schach-WM in der Videoanalyse:Carlsens ungewöhnlicher Springer-Zug
An seinem Geburtstag zeigt Weltmeister Carlsen eine durchaus originelle strategische Idee - doch Herausforderer Nepomnjaschtschi tappt auch im vierten Duell nicht in die Falle. Die Analyse im Video.
Fast acht Stunden lange saßen sich die beiden gegenüber, bis kurz nach Mitternacht Ortszeit. 136 Züge absolvierten sie, ein Rekordwert für WM-Partien, der den bisherigen Bestwert von Anatoli Karpow und Viktor Kortschnoi (124 Züge/1978) überbot. Carlsen war der Sieger dieses epischen Duells, das aufs Trefflichste den Stil illustrierte, mit dem der 31-jährige Norweger diese Epoche trägt. Und es spricht manches für die These, dass dies die Vorentscheidung war bei seinem Versuch, den WM-Titel zum vierten Mal zu verteidigen.
Nach dem vergleichsweise unspektakulären Remis am Samstag (gespielt wurden lediglich 41 Züge) liegt Carlsen nach sieben von maximal 14 möglichen Partien nicht nur einen Punkt vorne (4,0:3,0), sondern er hat das Moment auf der Seite, diesen besonderen und energieraubenden Freitagabend für sich entschieden zu haben.
Es ist der erste Sieg in einer regulären WM-Partie seit 2016
Es war ein Duell, das zu keinem passenderen Moment hätte kommen können. Denn Siege in regulären Partien sind rar geworden bei WM-Kämpfen. Der letzte hatte aus dem Jahr 2016 datiert, als Carlsen in der zehnten Partie den Russen Sergej Karjakin bezwang. 2018 gegen Fabiano Caruana endeten alle regulären Partien Remis, und 2021 gegen Nepomnjaschtschi die ersten fünf wieder - nicht weil sie so schlecht spielen, sondern weil sie quasi keine Fehler machen. Längst ist die Debatte entstanden, ob es nicht einen anderen Modus braucht, der die Zahl der Remisen reduziert. Über unnötige Langeweile motzte so mancher mal wieder, das Ende des klassischen Schachs - was bei genauerem Hinsehen unangemessen war, weil schon in den ersten Partien in Dubai viel Schärfe war. Und dann so ein Spektakel.
Nepomnjaschtschi kommt leicht besser aus der Eröffnung, aber Carlsen stabilisiert sich. Schon früh ist zu merken, dass er sich etwas vorgenommen hat: Er tauscht seine Dame gegen zwei Türme, das führt oft zu komplizierten Stellungen. Sein Nachteil: Er braucht viel Bedenkzeit. Zwei Stunden hat jeder Kontrahent für die ersten 40 Züge Zeit, aber der Norweger kalkuliert diesmal so lange, dass er für die letzten zehn Züge bis zur Zeitkontrolle nur noch fünf Minuten übrighat. Da ist es fast schon folgerichtig, dass er nicht mehr die perfekten Züge findet. Nepomnjaschtschi hat gleich zweimal die Gelegenheit, sich einen Vorteil zu verschaffen. Mit dem Läufer den Bauern auf b4 schlagen, das ist die Lösung - doch der Russe entscheidet sich jeweils anders, und gerät dann selbst in Zeitnot. Ein paar Züge lang geht es wie im Blitzschach hin und her. Immerhin gibt es nach den 40 Zügen noch einmal einen Zeit-Aufschlag von jeweils einer Stunde sowie 30 Sekunden pro Zug.
Immer weiter geht es in diesem Abnutzugskampf, 50 Züge, 60, 70. Nach 80 Zügen hat Nepomnjaschtschi neben seinem König noch seine Dame und einen Bauer, Carlsen Turm, Springer und drei Bauern. Eine sehr asymmetrische und spannende Konstellation ist das. Inzwischen ist der Zeitvorrat schon wieder aufgebraucht. Ein Mini-Kontingent von drei, vier Minuten haben sie noch, dazu die 30 Sekunden, die es nach jeder Figurenbewegung als Aufschlag gibt.
Jeder Spieler muss jeden Zug notieren - auch nach acht Stunden Spielzeit
Normalerweise stehen die Spieler in einer Partie immer mal wieder auf, um ein paar Schritte zu gehen, aber dafür ist jetzt keine Zeit mehr. Über Stunden bleiben sie am Platz, bestenfalls strecken sie ein wenig den Rücken. Die Kommentatoren auf den verschiedenen Internet-Plattformen überschlagen sich, die Kameras fixieren die Gesichter der zunehmend gequält dreinblickende Spieler. Und die müssen sich obendrein mit den behördlichen Brutalitäten des Schachsports ärgern: Die Regularien sehen es vor, dass jeder Spieler jeden Zug auf einem Blatt notieren muss. Auch den 100. und den 110.
Carlsen ist längst in einer Stellung angekommen, die er liebt. Den Gegner kneten, so nennt das die Szene, wenn der Norweger langsam den Druck aufbaut. Aber Nepomnjaschtschi lässt sich nicht kneten, sondern findet immer gute Verteidigungszüge. Doch in der achten Stunde, da tut sich was. Zwei weitere Bauern fliegen vom Brett, nach 115 Zügen steht noch Nemponjaschtschis Dame gegen Turm, Springer und zwei Bauern.
Stellungen mit so wenigen Steinen können die mitlaufenden Computer bis zum Ende durchrechnen. Jetzt zeigen sie an: "theoretisches Remis". Aber es ist so schwer zu verteidigen, und einmal, da macht der Russe mit der Dame einen etwas unpräzisen Zug. Das reicht. Schon ist Carlsens Moment gekommen, wie von magischer Hand wächst sein Vorteil von Zug zu Zug. Nach 125 Züge glauben die Experten erstmals an einen Sieg, nach 130 sieht es schon sehr gut aus für den Norweger, nach 135 meldet der Computer, dass bei perfekt ausgeführten Zügen ein Matt für Carlsen möglich sein würde - in 46 Zügen.
So weit kommt es nicht. Nepomnjaschtschi gibt bald auf. Aber diese Unsterbliche nur nach ihrem Gewinner zu benennen, würde dem Abend wohl auch nicht gerecht.