Süddeutsche Zeitung

Carlsen gegen Caruana:Schach ist Magie

In Zeiten, in denen die Aufmerksamkeit immer mehr zersplittert, begeistern sich viele Menschen für die Schach-WM. Das alte Spiel gewinnt durch moderne Methoden einen neuen Reiz.

Kommentar von Marc Hoch

Nichts dürfte eigentlich langweiliger sein als die Schach-Weltmeisterschaft in London, die seit zwei Wochen Magnus Carlsen aus Norwegen und sein italienisch-amerikanischer Herausforderer Fabiano Caruana austragen. Stundenlang verharren die beiden Männer vor dem Brett mit den 64 Feldern, und das einzige Ergebnis ihrer denkerischen Kraftanstrengung sind zehn Remis nach zehn Spielen. Niemals ist eine Schach-WM so zäh verlaufen wie diese. Und doch verfolgen Hunderttausende gebannt den Zweikampf. Sie sind im Internet live dabei, wenn Weltmeister Carlsen, wie im zehnten Spiel, plötzlich einen Bauern zum Schlagen anbietet, aber Caruana nicht darauf reinfällt. Oder sie rufen tags darauf die Analysen auf, die Experten wie Peter Svidler, Daniel King oder Stefan Kindermann anbieten. Auch das Angebot von sz.de zur WM wird enorm nachgefragt, was nur einen Schluss zulässt: Schach ist populär, Schach fasziniert, Schach ist magisch.

Das hat glücklicherweise nichts mehr mit Politik zu tun. Als 1972 Boris Spasski und Bobby Fischer das berühmteste WM-Match der Schachgeschichte austrugen, war dieses Duell gleichsam der Stellvertreterkrieg zwischen der Sowjetunion und dem Westen. Die politischen Systeme, die sich seit 1945 belauerten, traten in Reykjavik gleichsam zur Schlacht ohne Waffen an. Der Kommunismus unterlag.

Heute stehen bei der Schach-WM keine politischen Systeme mehr gegeneinander. Die ideologische Aufladung des Sports ist seit den Zeiten, als der ungestüme Garri Kasparow im Duell gegen den gescheitelten Positionsspieler Anatolij Karpow den Schachverband herausforderte, deutlich zurückgegangen. Die beiden Männer, die jetzt in London spielen, werden von ihren Fans als coole Repräsentanten ihres Sports wahrgenommen. Bestens vorbereitet gehen sie in ihre Partien und geben auch nach langem Kampf freundlich Interviews. Größenwahn und exzentrische Verhaltensweisen, die viele Schachvirtuosen seit dem ersten Weltmeister Wilhelm Steinitz zeigten, scheinen eine Kehrseite des Genies zu sein, doch Carlsen und Caruana sind sie eher fremd.

Das mag ex negativo erklären, weshalb sich viele für die beiden Kontrahenten in London interessieren, doch verdeutlicht das noch nicht, warum Schach heute so populär ist. Maßgeblich für den Aufschwung ist die technische Entwicklung - denn der unsichtbare und in seinen strategischen Verästelungen für den Laien rätselhafte Sport wird dank des Internets lebendig. Mit den Liveblogs loten die Schachexperten im Dialog mit der Szene die Stellungen aus. Die Züge und Kombinationen, die Carlsen und Caruana still für sich selber vorausdenken, werden auf den virtuellen Schachbrettern ausprobiert und auf ihre Siegchancen hin analysiert. Das alles verdeutlicht die unendlichen Varianten dieses Sports, der so reizvoll ist, dass immer mehr Menschen live dabei sein wollen.

Die eigentliche Faszination des Schachs wird so konkret: Dass sich zwei Menschen nur mit den Mitteln des Intellekts messen und dabei ihre Konzentration bis zur völligen Erschöpfung aufrechterhalten. Das ist in einer Zeit, in der die Aufmerksamkeit von vielen Nachrichten zersplittert wird und in der es für manch einen bereits schwierig ist, ein Buch zu lesen, eine enorme Leistung. Insofern ist Schach, wie es Ernst Jünger einmal schrieb, mehr denn je eine geistige Macht.

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Quelle:
SZ vom 24.11.2018
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