Es passiert eher selten, dass Journalisten bei einer Pressekonferenz Beifall klatschen. Doch als Ding Liren nach der sechsten Partie der Schachweltmeisterschaft gefragt wurde, was er zuerst tun werde, wenn er das Match tatsächlich gewinnen sollte, da reagierten einige der Pressevertreter mit Applaus auf seine Antwort: „Das letzte Mal habe ich nach meinem Sieg geweint. Dieses Mal werde ich vielleicht lächeln.“
Ding hat in den vergangenen Monaten sehr offen darüber gesprochen, wie anstrengend sich das Leben als Weltmeister nach seinem Sieg gegen Jan Nepomnjaschtschi vor gut anderthalb Jahren gestaltet hat. Auf seinen vermeintlichen Triumph folgten keine Freude und weitere Erfolge, sondern zwei Klinikaufenthalte gegen die Depressionen und eine sportliche Krise. Der Chinese hat mehrmals davon berichtet, wie schwer es ihm in den vergangenen Monaten gefallen sei, Motivation zum Schachspielen zu finden. 28 Spiele in Serie blieb er in diesem Jahr sieglos. Vor der WM in Singapur, wo Ding gegen den Inder Gukesh Dommaraju, 18, spielt, war daher viel darüber gesprochen und geschrieben worden, wie deutlich Ding wohl verlieren würde.

Ding Liren vor der Schach-WM:Warum der Weltmeister nur Außenseiter ist
Schachweltmeister Ding Liren hat seit Monaten keine Partie mehr gewonnen, ist in der Weltrangliste weit abgerutscht – und kämpft mit Depressionen. Jetzt muss der Chinese seinen Titel gegen den Inder Gukesh Dommaraju, 18, verteidigen. Hat er eine Chance?
Dass er eine echte Chance hätte, seinen Titel zu verteidigen, glaubte kaum jemand. Ein „Massaker“ prophezeite etwa der indische Großmeister Arjun Erigaisi, einen „Durchmarsch“ von Gukesh befürchtete das Fachportal chess.com. „Wir könnten ein Blutbad sehen“, sagte Magnus Carlsen. (Schach ist eben ein Kriegsspiel.)
Doch jetzt, nach sechs Partien, ist das Match plötzlich ausgeglichen: Ding und Gukesh haben je einmal gewonnen, hinzu kommen vier Unentschieden. Zuletzt remisierten sie dreimal nacheinander. Es steht 3:3, Weltmeister ist, wer zuerst 7,5 Punkte erzielt hat. „Ich denke, es ist gut für die Zuschauer, dass das Match noch ausgeglichen ist“, sagte Ding nach Spiel sechs. Er selbst hatte vor dem Start in Singapur öffentlich von seiner Sorge berichtet, dass er sehr hoch verlieren könnte.
Ding fällt bisher mit guter Eröffnungsvorbereitung auf
Man darf davon ausgehen, dass das ernst gemeint war. Der 32-Jährige ist für seine entwaffnende Ehrlichkeit bekannt. Als er kürzlich nach seinem Pokerface gefragt wurde, antwortete er: „Ich kann meine Reaktion während des Spiels ja nicht sehen. Daher weiß ich nicht, ob ich mein Pokerface bewahren kann.“ Auch sonst sind von ihm eher keine Psychospielchen zu erwarten.
Dass er das Match bislang so ausgeglichen gestalten kann, verdankt Ding in erster Linie der guten Eröffnungsvorbereitung von ihm und seinem Sekundanten Richard Rapport. Gleich in seiner ersten Partie mit den weißen Figuren überraschte er durch eine Variante der italienischen Eröffnung und erarbeitete sich somit eine leicht bessere Stellung für das Mittel- und Endspiel. Das sind jene Phasen einer Schachpartie, in denen es weniger um theoretisches Wissen und Vorbereitung geht, sondern mehr um präzise Berechnung und Intuition.
Das Problem für Ding und seine Ambitionen, erneut Weltmeister zu werden: Er vollendet seine Vorarbeiten bislang nicht.
Der Weltmeister gibt zu: „Ich wusste nicht, was zu tun ist.“
Statt aus der guten Stellung heraus anzugreifen und Gukesh unter Druck zu setzen, bot Ding seinem Gegner rasch einen Ausweg an. Nach je 23 Zügen einigten sie sich auf Remis. „Mein Grundgedanke war, vorsichtig zu spielen“, sagte Ding anschließend: „Ich bin mit dem Unentschieden zufrieden.“ Ganz ähnlich verlief die sechste WM-Partie am Sonntag. Wieder startete Ding vielversprechend – und wieder ließ er die Chance verstreichen, daraus Kapital zu schlagen. Stattdessen war er auf ein weiteres schnelles Remis aus. Ding scheint die Angriffslust abhandengekommen zu sein. „Ich wusste nicht, was zu tun ist“, gab er hinterher zu, auch das entwaffnend ehrlich.
Die Remis-Option nach 26 Zügen lehnte Gukesh zwar ab, sodass die Partie zur bislang längsten des WM-Matches wurde. Aber echte Chancen auf einen eigenen Sieg habe er gar nicht gesehen, sagte der Herausforderer hernach. Er habe schlicht Lust auf eine etwas längere Partie vor dem Ruhetag gehabt: „Ich spiele gerne Schach.“

Schach-WM: Denken wie ein Weltmeister (VI):Gukesh zeigt Kampfgeist
Der Herausforderer lehnt mehrmals einen Damentausch ab und geht damit ins Risiko. Doch Weltmeister Ding ist weiter auf Sicherheitskurs. Die Partie in der Analyse – mit dem WM-Rätsel des Tages.
Der ehemalige Weltmeister Viswanathan Anand sagte während der Liveübertragung der sechsten Partie, die beiden Kontrahenten hätten „gegensätzliche Ansätze. Ding ist mit Weiß sehr solide und geht noch nicht viel Risiko ein. Gukesh macht etwas mehr Druck, aber hin und wieder stolpert er“. Am Samstag hatte Gukesh schwer gepatzt, doch Ding hatte auch diesen ungenauen Bauernzug seines Gegners nicht in einen Sieg umwandeln können. Die Partie endete Remis. Großmeister Peter Heine Nielsen, der lange als Sekundant für Magnus Carlsen gearbeitet hat, schrieb anschließend bei X: „Ding macht zu wenig Druck.“
Und dennoch: Ding gestaltet dieses WM-Match deutlich enger als erwartet. Seine Sieglos-Serie konnte er zum Auftakt gegen Gukesh bereits beenden. Und sollte er jetzt, in der zweiten Hälfte des WM-Matches, auch noch seine Angriffslust wiederfinden, ist eine Titelverteidigung durchaus realistisch.
Man sieht ihn dieser Tage übrigens viel lächeln, den Weltmeister.