Schach-WM:Die geheimen Helfer, die keiner sieht

Lesezeit: 4 Min.

Am Tisch unter sich: Herausforderer Gukesh Dommaraju (rechts) und Weltmeister Ding Liren (links). (Foto: Roslan Rahman/AFP)

Bei der Schach-WM sind die Kontrahenten auf sich selbst angewiesen. Doch es gibt ein Team hinter den Zweikämpfern: Über die Rolle der Sekundanten — und warum die meisten von ihnen im Verborgenen agieren.

Von David Kulessa

Am Brett sind die Spieler bei der Schachweltmeisterschaft auf sich gestellt. Zwischen dem Handschlag, der die Partie einleitet, und jenem, der sie beendet, gibt es keinerlei Möglichkeit, sich mit jemand auszutauschen. Im Gegensatz zu anderen sportlichen Zweikämpfen, im Boxring etwa oder seit Kurzem auf dem Tenniscourt, dürfen sich die Kontrahenten von keinem Trainer motivieren, helfen oder aufmuntern lassen. Auch die Zuschauer sind nicht im selben Raum, sondern beobachten das Geschehen hinter einer einseitig transparenten Scheibe: Sie sehen die Spieler, doch die Spieler sehen die Zuschauer nicht. WM-Partien sind nicht nur ein Kampf gegen den Gegner, sondern auch gegen sich selbst.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wird der wichtigste Titel der Schachwelt seit 1886 in einem kräftezehrenden Zweikampf über mehrere Wochen ausgetragen, so auch in diesem Jahr: Seit vorvergangenem Montag duellieren sich in Singapur Titelverteidiger Ding Liren, 32, aus China und Herausforderer Gukesh Dommaraju, 18, aus Indien. Nach neun gespielten Partien steht es unentschieden, 4,5:4,5. Zuletzt gab es sechs Remis hintereinander. Gut möglich, dass das Match über die gesamten 14 Runden geht. Sollte es dann 7:7 stehen, ginge es in den Tiebreak, wo zunächst Schnell- und dann Blitzschach gespielt wird. Die Bedenkzeit würde also immer weiter verringert.

SZ PlusSchach-WM: Denken wie ein Weltmeister (IX)
:Die Kraft des Fianchettoläufers

Gukesh versucht es mit der Katalanischen Eröffnung, doch Ding findet einen Weg, die ihm gestellten Fallen zu entschärfen. Die neunte Partie in der Analyse – mit dem WM-Rätsel des Tages.

Von Stefan Kindermann und Veronika Exler

Das Match um die Weltmeisterschaft gilt als das härteste aller Duelle im Schach. Doch zumindest abseits des Bretts sind die Protagonisten mit der Bewältigung dieser Aufgabe nicht ganz allein.

Sichtbar wird das dieser Tage bei Ding Liren, dem der ungarische Großmeister Richard Rapport kaum von der Seite zu weichen scheint. In einem Video des Schachweltverbandes Fide ist zu sehen, wie Rapport den Titelverteidiger nach einer Partie vom Spielort abholt, seine Hand um dessen Schulter legt und die beiden gemeinsam in den Kleinbus steigen, der Ding zur Pressekonferenz bringt. Auch einige Stunden zuvor, auf dem Weg zur Partie, hatte Rapport den Chinesen begleitet; zum Abschied gab es ein kurzes Winken.

Während einer Weltmeisterschaft arbeiten die Spieler mit einem Team aus Großmeistern zusammen

Richard Rapport ist, wie schon beim vergangenen WM-Match, der Chef-Sekundant von Ding Liren. Seit ihrer erfolgreichen Zusammenarbeit bei der Weltmeisterschaft vor rund eineinhalb Jahren sei Rapport „sehr berühmt in China“, erzählte Ding vor dem Beginn des Duells in Singapur. Und vor einigen Monaten „haben wir wieder angefangen zusammenzuarbeiten“.

Die Arbeit der Sekundanten ist essenziell für die Spieler bei einer Schachweltmeisterschaft. Wer bis zu drei Wochen lang täglich für mehrere Stunden auf denselben Gegner trifft, kann zwischen den Partien nicht auch noch die eigene Nach- und Vorbereitung leisten. Also arbeiten Spieler während der WM mit einem Team aus etwa fünf Großmeistern zusammen, die manchmal sogar in einer anderen Zeitzone am Computer sitzen. Wer genau diese Unterstützer sind, verraten sie allerdings ungern.

„Im Schach geht es immer um Informationen“ erklärt der deutsche Männer-Bundestrainer Jan Gustafsson am Telefon: „Und Sekundanten könnten mit bestimmten Eröffnungen verknüpft sein.“ Der Hamburger hat WM-Erfahrung: 2016, 2018 und 2021 war er Teil des Teams, das Magnus Carlsen unterstützt hat.

Dings erster Helfer: der ungarische Schach-Großmeister Richard Rapport. (Foto: Meurer/Beautiful Sports/Imago)

Auch in Singapur ist bislang nur bekannt, wer die jeweiligen Teamchefs unter den Sekundanten sind: Rapport bei Ding, Grzegorz Gajewski, ein Großmeister aus Polen, bei Gukesh. Der 39-Jährige, der vor zehn Jahren auch Teil des Sekundantenteams von Viswananthan Anand war, arbeitet seit Dezember 2022 mit dem WM-Herausforderer zusammen. „Gaju hat meinen Blick für das Spiel geweitet“, sagt Gukesh.

Den Hauptteil ihrer Arbeit verrichten die Helfer bei der Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft. Normalerweise steht ein halbes Jahr vor Beginn fest, wer gegeneinander spielt. „Und dann geht es los“, sagt der ehemalige Carlsen-Sekundant Gustafsson. Das Team des Norwegers habe „gemeinsame Trainingslager absolviert, und dazwischen hat jeder zu Hause gearbeitet“. Ding hatte vor der WM preisgegeben, dass er erst drei Wochen zuvor mit der Vorbereitung begonnen habe. Das hatte viele Beobachter erstaunt. Gustafsson sagt, so unüblich sei das gar nicht. Bei der monatelangen Arbeit der Sekundanten müsse der Spieler nicht durchgehend involviert sein.

Richard Rapport ist ein ungewöhnlicher Sekundant – doch für Ding sind seine Ideen eine echte Bereicherung

Ziel der Arbeit sei es, die WM-Partien in Richtungen zu lenken, welche die Stärken des eigenen Spielers betonen: „Der Gegner macht dasselbe, und dann findet während des Matches ein Dialog statt“, sagt Gustafsson. Zwischen den Partien müsse der Plan nachjustiert werden, „es gibt tausend Eventualitäten, die man nicht alle vorbereiten kann“.

Beim Blick auf die Chef-Sekundanten von Gukesh und Ding fällt auf, dass bloß einer der beiden dem klassischen Profil eines Helfers entspricht: Gajewski ist ein erfahrener Schachtrainer und in der Weltrangliste auf Rang 352 gelistet. Persönliche Ambitionen am Brett verfolgt er nicht mehr. Rapport, 28, hingegen ist ein ungewöhnlicher Sekundant. Der Ungar galt vor nicht allzu langer Zeit selbst als potenzieller WM-Kandidat, war vor zweieinhalb Jahren die Nummer fünf der Welt und gehört auch weiterhin zur internationalen Spitze. Ihn und Ding trennen bloß drei Plätze in der Weltrangliste. Dass sich so jemand voll in den Dienst eines vermeintlichen Konkurrenten stellt, ist erstaunlich.

Allerdings ist Rapport auch am Brett ein unkonventioneller Großmeister, mit teils wilder Spielweise. Das hat ihm selbst zwar den ein oder anderen Sieg in seiner Karriere gekostet. Doch für den eher zurückhaltenden Ding sind Rapports Ideen eine echte Bereicherung. Bislang hat der Chinese in jeder seiner Partien mit den weißen Steinen einen anderen Eröffnungszug gewählt. Außerdem, sagte Ding kürzlich, sei Rapport „ein sehr lustiger Typ und reißt ein paar Witze, wenn wir zusammen trainieren. Er gibt uns eine gute Atmosphäre.“ Wer noch zu dem Team gehört? Betriebsgeheimnis. Doch immerhin so viel verriet Ding: Er habe einen Sekundanten mehr als im vergangenen Jahr, und somit „mehr Ideen“. Gegner Gukesh dankte seinen Sekundanten unterdessen für ihre „interessanten Ideen“.

Ideen über Ideen also. Nur welche davon sie umsetzen – das müssen die beiden am Brett ganz allein entscheiden.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusSchach-WM
:„Als Weltmeister musst du trotzdem deine Zähne putzen“

Ding gegen Gukesh: Wer wird neuer Schach-Weltmeister? Ein Gespräch mit dem früheren Titelträger Viswanathan Anand über die Chancen seines Schülers, die Gier der jungen Generation nach klassischem Schach – und die innere Leere nach großen Erfolgen.

Interview von David Kulessa

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: