Süddeutsche Zeitung

Schach-Kandidatenturnier:"Das ist unverzeihlich"

  • So furios wie in Berlin geht es bei Schach-Kandidatenturnieren selten zu.
  • Die Mitfavoriten Wladimir Kramnik und Lewon Aronjan spielen eine historische Schach-Partie - und patzen danach mehrmals schwer.
  • Aronjan erlebt einen besonders tragischen Moment.

Von Martin Breutigam, Berlin

Als die Schachwelt für ihn noch in Ordnung war, hatte Lewon Aronjan schon über den rechten Umgang mit groben Fehlern philosophiert. "Fehler sind eine Art Medizin, sie wecken dich auf", sagte Aronjan nach der zweiten Runde des Kandidatenturniers im Berliner Kühlhaus. Eine Medizin gegen das Gefühl, sich selbst für großartig und unverwundbar zu halten. Zu jenem Zeitpunkt waren dem für sein kreatives Spiel geschätzten Armenier noch keine Fehler unterlaufen. Der Turniersieg und damit das Recht, Weltmeister Magnus Carlsen herauszufordern, blieben ein realistisches Ziel.

Inzwischen sind sechs von vierzehn Runden gespielt und der vor dem Turnier oft als Favorit genannte Aronjan hat mit seinen Zügen schon ein paar Mal schwer daneben gelegen. Wohl zu oft, um im November gegen Carlsen antreten zu dürfen. Vor der siebten Runde am Sonntag (15 Uhr) stehen für ihn nur 2,5 Punkte zu Buche. Es führen der Amerikaner Fabiano Caruana und Schachrijar Mamedjarow aus Aserbaidschan mit je 4 Punkten.

Im entscheidenden Moment leidet Aronjan unter Schachblindheit

An den bizarren Spielort haben sich die acht Großmeister mittlerweile offenbar gewöhnt. Das Kühlhaus, ein ehemaliges Industriegebäude am Gleisdreieck, wirkt von der unteren Spielebene aus betrachtet wie ein hohler, knastartiger Turm. Die Zuschauer dürfen nur von den beiden darüber liegenden Etagen aus zusehen. Zu Beginn hatte es Klagen über Ruhestörungen im Kühlhaus gegeben, auch die Toilette sei "nicht in Bestform", befand Ex-Weltmeister Wladimir Kramnik. Mittlerweile erinnern etliche Helfer konsequent ans Ruhegebot. Wenn Zuschauer tuscheln, bekommen sie passend zum morbiden Dunkel des Spielortes ein schwarzes Schild vorgehalten, auf dem mit weißer Schrift "Silence" steht.

Die stundenlange Kopfarbeit ohne Tageslicht scheint die Großmeister durchaus zu beflügeln. So spektakulär und kämpferisch wie bisher im Kühlhaus ging es bei früheren Kandidatenturnieren selten zur Sache. Ein historischer Glanzsieg gelang zum Beispiel Kramnik in der dritten Runde gegen Aronjan. Beide haben inzwischen aus unterschiedlichen Gründen den Anschluss zur Spitze verloren.

Aronjan kam zwar nach der Niederlage gegen Kramnik rasch wieder zurück, indem er den formschwachen Vizeweltmeister Sergej Karjakin bezwang. Doch in der fünften Runde litt er im entscheidenden Moment der Partie gegen Alexander Grischuk unter Schachblindheit: Aus unbegreiflichen Gründen verschmähte Aronjan im 29. Zug einen Läufer des Russen, weil ihm am Brett nicht klar war, wie es anschließend hätte weitergehen können. Die Partie endete remis. Als man Aronjan anschließend darauf hinwies, dass er sogar auf zwei Arten hätte gewinnen können, verfinsterte sich dessen Miene. "Das ist unverzeihlich in so einem Turnier", sagte er.

Dieser krasse Fehler sollte keine heilsame Medizin für den 35-Jährigen sein. Im Gegenteil, am nächsten Tag wurde er vom Amerikaner Wesley So glatt überspielt. Aronjan stellte klar, die Niederlage habe nichts mit seinem Malheur vom Vortag zu tun. Tatsächlich war er in seinen beiden Verlustpartien, gegen Kramnik und gegen So, jeweils in der Eröffnung vor Probleme gestellt worden, für die er keine guten Lösungen fand.

Anders verhält es sich mit Kramniks Einbruch. Der Weltmeister von 2000 bis 2007, als einziger Teilnehmer über eine Wildcard ins Feld gerückt, war furios gestartet. Nach drei Runden hatte er schon zweimal gewonnen und einmal remis gespielt. Um ein Kandidatenturnier zu gewinnen, reicht es häufig, drei oder vier Partien mehr zu gewinnen als zu verlieren. Also eine Wertung von Plus-3 oder Plus-4 zu erzielen, wie es im Fachjargon heißt. Kramnik schien auf einem guten Weg. Es wäre also durchaus zu erwarten gewesen, dass er seine Führung erst einmal energiesparend verwaltet hätte.

Doch vielleicht hatte die Glanzpartie gegen Aronjan sein ohnehin stark ausgeprägtes Selbstbewusstsein auf ein ungesundes Maß ansteigen lassen. In der vierten Runde überreizte Kramnik das Spiel: Nach einem wechselhaften, sechs Stunden andauernden Drama, bot ihm Fabiano Caruana plötzlich ein Remis an. Die Stellung war etwa ausgeglichen, aber weiterhin kompliziert. Zudem befanden sich beide in Zeitnot.

Doch statt das Angebot anzunehmen, spielte Kramnik weiter, übersah eine taktische Abwicklung und musste bald aufgeben. Auch am Freitagabend gegen Schachrijar Mamedjarow, den Weltranglisten-Zweiten aus Aserbaidschan, verschmähte Kramnik eine Punkteteilung durch Zugwiederholung, indem er eine zweischneidige Aktion am Königsflügel startete, die ihn letztlich in Nachteil bringen sollte.

Wenn Fehler einen Schachspieler wirklich aufwecken, dann sollten beide - Aronjan und Kramnik - in der siebten Runde hellwach sein.

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Quelle:
SZ vom 18.03.2018/ebc
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