Sportlich sorgte die Ukraine in Budapest kürzlich für eine große Überraschung: Bei der Schacholympiade, die gerade in der ungarischen Hauptstadt stattfindet, besiegten die Männer die an Nummer eins gesetzten US-Amerikaner. Sogar eine Medaille scheint jetzt realistisch zu sein. Das Herz der Nationalspieler ist trotzdem „heavy“, schwer, wie sie in einem Brief des ukrainischen Verbandes schreiben, der an andere Föderationen verschickt wurde und den das Schachportal Chessdom veröffentlicht hat.
Die Forderung an die Schachwelt ist eindeutig: Russische und belarussische Schachspielerinnen und -spieler sollen auf keinen Fall wieder wie früher bei internationalen Wettkämpfen teilnehmen. Hintergrund ist ein vom kirgisischen Verband gestellter Antrag, über den auf der Generalversammlung des Weltverbandes Fide am kommenden Wochenende abgestimmt werden soll. Darin heißt es, die volle Mitgliedschaft für Russland und Belarus solle wiederhergestellt werden, „mit sofortiger Wirkung“.
Aktuell liegt die Fide weitgehend auf einer Linie mit dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) und verbietet Russen und Belarussen zwar nicht die Teilnahme an Wettkämpfen – sie müssen aber unter neutraler Flagge antreten, ihre Hymnen werden nicht gespielt, und bei den (im Schach eher seltenen) Team-Events wie der Olympiade gibt es kein russisches oder belarussisches Nationalteam. Beschlossen hatte die Fide das drei Tage nach Kriegsbeginn. Sollte die Mehrheit der 199 nationalen Schachverbände nun für den kirgisischen Antrag stimmen, wäre die Fide der erste vom IOC anerkannte Weltverband, der russische Athleten wieder zulässt.
Der DSB und andere westliche Verbände sind mit ihrer Opposition klar in der Unterzahl
Der Deutsche Schachbund (DSB) war schon vor einem knappen Monat entschieden gegen den Antrag: „Wir sind zutiefst solidarisch mit der Ukraine“, sagte Präsidentin Ingrid Lauterbach: „Wir müssen hier ganz klar die Grenze ziehen – und wenn ich es auch stark bezweifle, hoffe ich, dass dies die Mehrheit der Verbände ebenso sieht.“
Als die SZ Lauterbach diese Woche in Budapest erreicht, klingt diese optimistischer. Das freilich liegt weniger am Umdenken nationaler Verbände – die westlichen Gegner des Antrags sind klar in der Unterzahl – sondern hat vor allem mit einem Brief zu tun, der der SZ vorliegt. Er stammt vom ARISF, jenem Verband der vom IOC anerkannten Sportverbände, deren Disziplinen nicht olympisch sind. Auch die Fide ist Mitglied im ARISF.
In dem Brief weist der vom IOC konstituierte Verband darauf hin, dass er „großen Wert auf die Empfehlungen des IOC“ für den Umgang mit Athleten und Verbänden aus Russland legt. Geraten wird dort, was zuletzt bei Olympia in Paris zu beobachten war: Russische Athleten sind nur in Einzelsportarten zugelassen, müssen unter neutraler Flagge antreten, die russische Hymne darf nicht gespielt werden und eine „aktive Unterstützung des Krieges in der Ukraine“ ist verboten.
Die Hoffnung des DSB und anderer westlicher Verbände ist nun, dass der Brief insbesondere von Fide-Chef Arkadij Dworkowitsch so verstanden wird, dass eine Aufhebung der Beschränkungen für Russen und Belarussen das Ende der Anerkennung durch das IOC zur Folge haben könnte. „Ich höre, dass Dworkowitsch inzwischen verstanden hat, dass er mit dem Verstoß gegen die IOC-Empfehlungen Probleme bekommt“, sagt Lauterbach am Telefon.
Schachspielerin Dinara Wagner:"Russland möchte ich definitiv nicht repräsentieren"
Dinara Wagner wurde in Kalmückien geboren und startete für Russland. Dann heiratete sie, wechselte 2022 zum Deutschen Schachbund und positioniert sich gegen die russische Politik. Bald könnte sie die beste Schachspielerin des Landes sein.
Auf SZ-Anfrage, ob und wie das IOC reagieren würde, sollte die Fide tatsächlich zuwider den Empfehlungen handeln, verweist das IOC bloß auf seinen eineinhalb Jahre alten Leitfaden an die Weltverbände – was bei einer Missachtung geschieht, wird darin nirgends ausgeführt. Auch in dem Brief des ARISF heißt es bloß, man bleibe „entschlossen, alle Mitgliedsverbände zu ermutigen, die Empfehlungen des IOC streng zu befolgen“. Eine Formulierung, die alles und nichts bedeuten kann. Ob einem autarken Verband wie der Fide wirklich ein Ausschluss aus dem ARISF droht, darf da schwer bezweifelt werden. Zumal der Box-Weltverband IBA, der Russland vor zwei Jahren wieder voll eingliederte, vom IOC nicht deshalb suspendiert wurde, sondern wegen anderer Verfehlungen. Würden scharfe Konsequenzen für die Fide ausbleiben, wäre das jedenfalls ein möglicher Dammbruch.
Er habe keine direkte Einflussnahme des Kreml erlebt, sagt ein ehemaliger Fide-Mitarbeiter
Die Diskussionen um russischen Einfluss im Weltschach sind nicht neu und entzünden sich meist an dem Präsidenten der Fide: Arkadij Dworkowitsch, 52, leitet den Verband seit 2018, nachdem er zuvor eine erfolgreiche Politkarriere im Kreml durchlaufen hatte. Er war unter anderem von 2008 bis 2012 Berater des russischen Staatschefs Dmitrij Medwedjew, anschließend stellvertretender Ministerpräsident. Bei der Fide folgte er auf Kirsan Iljumschinow, ebenfalls ein Russe, der 23 Jahre lang im Amt war. Erfolge im Schach sind in Russland mit viel Prestige verbunden.
Es gibt verschiedene Ansichten darüber, wie eng die Fide mit der russischen Politik verbandelt ist. Die iranische Schach-Schiedsrichterin Shohreh Bayat sagte vor knapp zwei Jahren im SZ-Interview, sie halte Präsident Arkadij Dworkowitsch für eine „Schachfigur des Kreml“, auch Ingrid Lauterbach befürchtet: „Dworkowitsch scheint in der Hand von Putin zu sein.“ Ein einstiger leitender Fide-Mitarbeiter sagt im Gespräch, er habe in seiner Zeit beim Verband keine direkte Einflussnahme des Kreml erlebt. Doch Dworkowitsch habe schon wegen seines Wohnsitzes in Russland stets genau abwägen müssen, was er sagt. Dworkowitsch selbst versicherte der SZ im Februar 2023: „Ich vertrete nicht die russische Politik.“
Russischer Welt-Schachpräsident:"Ich vertrete nicht die russische Politik"
Arkadij Dworkowitsch war stellvertretender russischer Ministerpräsident. Jetzt führt er den Welt-Schachverband Fide, in dem viel im Sinne des Kreml läuft. Ein Gespräch über sein Verhältnis zu Wladimir Putin - und wie er zur Ukraine steht.
Beim Umgang mit dem russischen Angriffskrieg zeigt sich die ambivalente Haltung, die Dworkowitsch in die Fide trägt. Er gilt zwar nicht als Unterstützer des Krieges, verurteilt ihn aber auch nicht eindeutig. Selbst im offiziellen Fide-Statement zu den Beschränkungen für russische Spieler kommt das Wort „Krieg“ nicht vor. Von Dworkowitsch tauchen zudem immer wieder Aufnahmen auf, die ihn bei Schachveranstaltungen in Russland mit hochrangigen Kreml-Vertretern zeigen.
Im vergangenen Juni rügte, für viele überraschend, die Ethikkomission des eigenen Verbandes den Präsidenten für dessen Nähe zur russischen Politik. Sie forderte ihn auf, ein Gremium im russischen Schachverband (CFR) zu verlassen, in dem unter anderem Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow und der ehemalige russische Verteidigungsminister Sergej Schojgu sitzen. Zudem schlossen die Ethiker den CFR für zwei Jahre von sämtlichen Fide-Treffen aus, weil der Verband Schachevents in besetzten ukrainischen Gebieten organisiert.
Was folgte, ist aus Sicht vieler Kritiker typisch für die Fide. Dworkowitsch und der CFR legten erfolgreich Berufung ein – das strittige Gremium im russischen Verband existiere bloß auf dem Papier und sei daher irrelevant, entschieden drei andere Mitglieder der Ethikkommission. Einer von ihnen arbeitet wohl für eine russische Anwaltskanzlei. Dworkowitsch wurde also freigesprochen, die Suspendierung des CFR aufgehoben. Was blieb, war eine Geldstrafe über 45 000 Euro. Und auf der Agenda der Generalversammlung für das kommende Wochenende tauchten plötzlich bemerkenswerte Punkte auf. Erstens sollen die Kompetenzen der Ethikkommission „angepasst“ werden, weitere Informationen darüber hat auch die wahlberechtigte Ingrid Lauterbach nicht. Zweitens kandidiert Babur Tolbaev als neuer Vorsitzender.
Tolbaev ist Präsident des kirgisischen Schachverbands – und damit Chef jener Organisation, die beantragt hat, alle Beschränkungen für russische und belarussische Schachspieler aufzuheben.