Schach:Chinas Schach-Vollendung steht kurz bevor

World Chess Tournament 2018 - First Move Ceremony

"Ich spüre viel Druck": Liren Ding, 25, weiß, dass die weltweite Schach-Szene seine Entwicklung verfolgt.

(Foto: Sebastian Reuter/Getty Images)
  • Liren Ding, der erste Chinese bei einem Kandidatenturnier, steht stellvertretend für die Entwicklung des Sports in seinem Land.
  • China verfolgt seit vier Jahrzehnten das Ziel, die Schachwelt zu dominieren. Bei den Frauen ist das bereits gelungen.
  • Unter den Top 30 der Weltrangliste stehen fünf Chinesen - dank staatlicher Unterstützung und eines großen Pools an Talenten.

Von Johannes Aumüller, Berlin

Einen Moment bitte, sagt Liren Ding und eilt quer durch den Raum. Kurz danach kommt er zurück, aber nicht alleine, sondern in Begleitung einer Mittfünfzigerin. Eine Übersetzerin? Nein, die Generalsekretärin des chinesischen Schach-Verbandes. Liren Ding ist ein netter junger Mann, bei einem Gespräch am Rande des Kandidatenturniers in Berlin berichtet er gerne, wie er sich so fühle und welche Ziele er habe. Aber etwas heiklere Fragen wie die generelle Unterstützung durch die nationale Föderation und die Regierung, das sollen dann doch andere beantworten.

Ding, 25, aus der ostchinesischen Provinz Zhejiang, ist der nominell beste chinesische Schachspieler. Und er ist der erste Chinese, der an einem Kandidatenturnier teilnimmt. Am Dienstagabend ist klar, wer das Achterfeld für sich entscheidet und im November gegen Weltmeister Magnus Carlsen antreten darf. Die besten Chancen hat vor der Schlussrunde Fabiano Caruana (USA), der einen halben Punkt vor der Konkurrenz liegt. Ding ist Vierter, aber unabhängig von seiner endgültigen Platzierung darf er für sich reklamieren, ein gutes Turnier zu spielen. Und in jedem Fall steht er beispielhaft für eine bemerkenswerte Entwicklung des Sports in seinem Land.

Während der Kulturrevolution unter Mao Zedong war Schach in China noch verpönt. Doch schon 1975 trafen sich unter Führung von Tan Chin Nam in Malaysia Geschäftsleute, Exil-Chinesen und Schach-Funktionäre, um einen so ambitionierten wie langfristigen Plan zu entwickeln. Der Name: "Big Dragon Project" (Projekt Großer Drachen). Das Ziel: China soll die Schachwelt dominieren - bis 2010. Erst bei den Frauen, dann bei den Männern.

Bei den Frauen gewann China fünf der vergangenen sieben WM-Titel

Rund vier Jahrzehnte später ist es mit der Vollendung dieses Projektes ziemlich weit gediehen. Unter anderem dank staatlicher Unterstützung, eines aufgrund der großen Bevölkerung zwangsläufig großen Pools an möglichen Talenten - und eines wenig zimperlichen Umganges mit diesen Talenten, wenn es etwa um den Trainingsumfang geht. Gemeinsam mit Russland ist China inzwischen das führende Land. Bei den Frauen zeigt sich das schon länger: Bereits seit Ende der Neunziger gewannen sie regelmäßig die Schach-Olympiade. Bei fünf der sieben vergangenen WM-Kämpfe triumphierten Chinesinnen, alleine vier Mal Hou Yifan, die auch vor Landsfrau Ju Wenjun die Weltrangliste anführt.

Bei den Männern setzte der Sprung an die Spitze etwas später ein. 2014 gewann China die Schach-Olympiade, 2015 und 2017 die Mannschafts-WM - auch wenn dort nicht immer alle Länder in Top-Formation antraten. Unter den Top 30 der Weltrangliste stehen inzwischen fünf Chinesen. Nur die Krönung fehlt noch: dass ein Chinese mal einen WM-Kampf bestreitet - oder gar Weltmeister wird.

Ding wirkt wie ein schüchterner Jüngling

Ding antwortet stets höflich. Aber es ist ihm durchaus anzumerken, dass es ihn ein wenig nervt, wenn es darum geht, dass er der erste Spieler seines Landes sei, der dieses oder jenes erreicht habe oder noch erreichen könne. "Ich spüre viel Druck. Viele Schachspieler verfolgen meine Spiele und meine Ergebnisse. Aber ich versuche, mich nicht unter Druck setzen zu lassen", sagte er bei dem Gespräch im Berliner Kühlhaus vor dem Turnierbeginn. Ein Platz unter den besten drei sei sein Ziel. In jedem Fall demonstrierte er eine erstaunliche Konstanz: Seine ersten elf Partien endeten remis, in Runde zwölf bezwang er den favorisierten Aserbaidschaner Schachrijar Mamedjarow, dann folgte wieder ein Remis.

Es ist die vorläufige Krönung einer kontinuierlichen Entwicklung. 2015 stieß Ding erstmals unter die besten zehn der Welt vor. Im Juli 2016 führte er gar in der globalen Rangliste im Blitzen (Spiele von kurzer Bedenkzeit mit nur fünf Minuten pro Akteur). Und im Vorjahr zeigte er in einer Partie ein solch furioses Damenopfer, dass viele Beobachter von der "Partie des Jahres" sprachen. Aber neben manchem Kontrahenten wirkt Ding noch wie ein schüchterner Jüngling.

Er ist erst 25, soeben hat er sein Jura-Studium abgeschlossen. "Mit einer sehr guten Note", sagt die Generalsekretärin. "Mit einer nicht so guten Note", sagt Ding selbst. Er hat studiert, weil seine Eltern nicht wollten, dass er alles auf eine Karte setzt. Denn die Unterstützung des Staates für Schach im Allgemeinen mag groß sein, bei Ding selbst kommt nicht so viel an: Die Reisen und einen Trainer für so große Turniere wie in Berlin zahlt ihm der Verband, aber für ihn selbst gibt es fix nur circa 600 Dollar von der Lokalregierung.

In Chinas Verband glauben sie, dass sich Ding noch verbessern kann. Aber sollte es mit dem WM-Titel bei ihm nichts werden, wäre es für sie nicht weiter schlimm. Denn sie haben schon den nächsten Mann im Blick, der das Drachenprojekt vollenden könnte: Wei Yi, erst 18 Jahre alt und der stärkste Junior der Welt. Und derzeit noch Dings Sekundant.

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