Süddeutsche Zeitung

Marathonläuferin Lonah Salpeter:Das Kindermädchen, das in die Weltspitze lief

Viele afrikanische Lauftalente starten für andere Länder, in denen sie begierig empfangen werden. Lonah Salpeter ging einen anderen Weg: Sie zog nach Israel - und musste lange kämpfen, ehe sie als Athletin akzeptiert wurde.

Von Johannes Knuth

Auch die diesjährige Auflage des New-York-Marathons wird sich in die Erinnerung brennen, und das will schon was heißen bei diesem Rennen durch die fünf Stadtbezirke, das in seiner Historie einiges mitgemacht hat: von Sitzstreiks über Hurrikans bis zu Weltrekorden, die keine Anerkennung fanden, weil die Organisatoren die Strecke falsch vermessen hatten.

Als der Brasilianer davonpreschte, da war vielen klar: Das kann nicht gutgehen

Früh war klar, dass diesmal wieder etwas Besonderes in der Luft lag, als der Brasilianer Daniel do Nascimento, immerhin Südamerika-Rekordhalter in 2:04:51 Stunden, allen davonpreschte, in einem Tempo, das selbst Eliud Kipchoge bei dessen jüngstem Weltrekord in Berlin Probleme bereitet hätte. Das konnte nicht gut gehen, schon gar nicht auf der welligen Piste von New York, und daraus speiste sich fortan der Nervenkitzel: do Nascimento dabei zuzuschauen, wie er unterging, in seinen lavendelfarbenen Hosen. Er legte zunächst einen Boxenstopp in einem Dixieklo ein - 18 Sekunden, stoppten die Beobachter - knapp zehn Kilometer vor dem Ziel sank er dann zusammen. "Tut mir leid für ihn", sagte der spätere Sieger Evans Chebet aus Kenia über den Moment, in dem er den von Helfern umsorgten do Nascimento passierte. "Aber ich musste das Rennen fortsetzen", sagte Chebet, als ob er sich dafür entschuldigen müsste.

Das Rennen der Frauen hatte auch was. Hellen Obiri, die mehrmalige Weltmeisterin auf der Bahn, war in ihrem ersten Marathon gleich als Favoritin ausgerufen ("Sie kennen Hellen Obiri noch nicht? Das wird sich ändern!", stand auf Plakaten überall in New York), aber weder die Kenianerin, noch Gotytom Gebreslase, die diesjährige Marathon-Weltmeisterin, noch Lonah Salpeter, die WM-Dritte von Eugene, bogen als Erste im Central Park ein. Dafür Sharon Lokedi, eine 28-jährige Kenianerin, die auch ihren ersten Marathon bestritt, oft im heißen Arizona trainiert und über die ungewohnt kuscheligen 20 Grad in New York sagte: "Perfektes Wetter für mich."

So blieb eine der interessantesten Figuren des Rennens im toten Winkel, wieder einmal: Lonah Chemtai Salpeter, diesmal Zweite, mickrige sieben Sekunden hinter der Siegerin. Salpeter macht eben keine große Sache daraus: dass ihr Lauf in die Elite der Straßenläuferinnen so viele Irrungen hatte wie ein Rennen über 42,195 Kilometer.

Manche Länder haben sich in der Leichtathletik in den vergangenen Jahren einen zweifelhaften Ruf erworben, weil sie aus Afrikas tiefem Talentteich schöpfen, Läuferinnen und Läufer mit Pässen ausstatten wie auf einem Transfermarkt. Wer in Kenia und Äthiopien nicht einen der hart umkämpften Startplätze abkriegt, hat es woanders leichter, gerade bei kontinentalen Meisterschaften wie in Europa. Bei Salpeter verhielt es sich allerdings anders: Sie fing in Israel erst mit dem Laufen an, und sie kämpfte lange, ehe ihre neue Heimat sie als Athletin akzeptierte.

Lange wartete sie auf ihre Einbürgerung - nach ihrem Marathonsieg ging alles ganz schnell

Salpeter kam 2008 nach Herzlia, eine wohlhabende Stadt in der Nähe von Tel Aviv, dort arbeitete sie als Kindermädchen für einen kenianischen Diplomaten. Abends joggte sie ab und zu, "weil ich mich im Haus gelangweilt habe", erzählte sie zuletzt der New York Times. Was Salpeter als Wohlfühltempo empfand, weckte das Interesse ambitionierter Läufer, auch jenes des einstigen Läufers und Sportstudenten Dan Salpeter. Aus Freundschaft wurde Liebe, und als Lonah Salpeters Visum 2013 ablief, zog Dan mit ihr nach Kenia. Erst jetzt sah Lonah das erste Mal die Kraftzelle von Kenias Ausnahmeläufern: Iten, die oft mythisch verklärte Trainingsstätte in der Höhe Westkenias. Erst jetzt spürten sie, sagen die Salpeters heute, dass in Lonah mehr steckte als eine Feierabendläuferin.

Es dauerte noch ein, zwei Jahre, nach Heirat und Geburt ihres Kindes, ehe das Training anschlug. Salpeter war noch nicht schnell genug, um sich für Kenia für den Olympiamarathon zu qualifizieren, aber für Israels Aufgebot reichte die Form locker. Nur: Sie war noch keine Staatsbürgerin, und der Pfad dorthin kann sechs, sieben Jahre an Warterei verschlingen. Als Salpeter das erste Mal bei den Behörden vorsprach, prallte sie auf eine Wand der Ablehnung. Das änderte sich, als sie im Februar 2016 den Marathon in Tel Aviv gewann, in 2:40:16 Stunden, fünf Minuten unter der Olympianorm. Als sie danach ins Ministerium schritt, hatte sie diverse Reporter im Schlepptau. Auf einmal ging alles ganz schnell.

Bei den Spielen 2016 (und 2021 in Tokio) gab sie noch auf, mal wegen Schulterschmerzen vom Stillen, mal wegen Menstruationskrämpfen ("Ich bin eine Frau, das passiert einem", sagte sie in Tokio). Ansonsten hat Salpeter, still und emsig, schon einige Weihen auf sich vereint, EM-Gold 2018 in Berlin über 10 000 Meter, Marathon-Siege wie vor zwei Jahren in Tokio, wo sie ihre bisherige Bestzeit lief in 2:17:45 Stunden. Nach ihrem WM-Bronzegewinn zuletzt in Eugene wurde sie bei der EM in München Dritte über 10 000 Meter, in Landesrekord (30:46,37), knapp vor Konstanze Klosterhalfen. Israels Flagge war zuletzt oft auf ihren Schultern zu sehen, auf den Ehrenrunden.

Dass sie es als Immigrantin aus Afrika in ihrer neuen Heimat nicht immer so einfach hatte, spart Salpeter oft höflich aus. "Viele Menschen in Israel sagen mir, ich würde sie inspirieren, das motiviert mich sehr", sagt sie. Was diesen Lauf angeht, fühlt sie sich offenbar am Ziel.

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