Bei Lance Armstrong dürfte die Mail, die ihm Alberto Salazar am 1. Dezember 2011 schickte, wie ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk angekommen sein: "Lance, ruf mich so schnell wie möglich an! Wir haben es getestet, und es ist unglaublich! Du bist der einzige Athlet neben Galen Rupp, dem ich die echten Zahlen mitteilen werde. Alles völlig legal und natürlich. Du wirst den Iron Man ungefähr 16 Minuten schneller laufen, wenn du das nimmst. Alberto."
Was für eine Ansage. Zu der Zeit, Ende 2011, hatten Armstrong die monströsen Dopingvorwürfe bereits eingeholt, die Monate später zur lebenslangen Sperre und zur Aberkennung sämtlicher Rad-Meriten führten, darunter sieben Tour-de-France-Titel. Also bereitete sich der texanische Superdoper, verbunden mit Salazar über den gemeinsamen Sponsor Nike, auf seine Zweitkarriere als Triathlet vor. Im Mai darauf gewann er den Ironman 70.3 Florida (bei dem es über die halbe Ironman-Distanz geht), Wochen später den nächsten Halb-Ironman auf Hawaii.
Ob Salazar, der Langstrecken-Guru und Chef des Nike Oregon Project (NOP), an diesen Triumphen mitgewirkt hat, ist nicht bekannt. Aus den Akten der amerikanischen Anti-Doping-Agentur Usada, die beide Sporthelden zu Fall gebracht hat - damals Armstrong und nun auch Salazar -, geht nur hervor, dass Armstrong kurz darauf tatsächlich erfuhr, was genau das neue Wundermittel von Alberto Salazar war. Wieder per Mail: "Bei meinem Assistenten Steve benutzte der Arzt einen Ein-Liter-Kochsalzbeutel mit einer L-Carnitin- und Dextrose-Lösung, dadurch stieg sein Insulinspiegel an, und das L-Carnitin zog in die Muskeln ein."
L-Carnitin ist ein Fettverbrenner, dem auch Eigenblut-Dopingeffekte nachgesagt werden. Es ist zwar nicht verboten, infundiert in so horrenden Mengen zählt es aber zweifelsfrei zu den verbotenen Praktiken nach den Anti-Doping-Regeln: legale Infusionen sind auf ein Volumen von 50 Milliliter begrenzt. Der Einschuss eines ganzen Liters bei Assistenzcoach Steve Magness soll an die fünf Stunden gedauert haben.
Das Schiedsgerichtsurteil zu Salazar, 61, der wegen Testosteron-Handels und anderer Dopingverstöße für vier Jahre gesperrt wurde, wirft Fragen in viele Richtungen auf. Eine betrifft das große Ganze: Hat der Projektleiter, der selbst einst die Marathons in Boston und New York gewann, eine Betrugskultur im NOP etabliert? Oder lassen sich die Vorgänge trennen: Da der Boss, dort seine Co-Trainer und ihre Athleten, die zwar unter dem Guru wirkten, aber ganz andere Wege gingen als er - und trotzdem sehr erfolgreiche?
Die Frage ist heikel, die Fahnder der Usada dürfen sich dazu nicht äußern. Doch im Umfeld der Agentur heißt es: "Alles deutet darauf hin, dass es nur diese eine Kultur gab - die von Alberto." Eine Kultur, die anrüchige Experimente, gezielte Fehldiagnosen, Aktenfälschung und vieles andere beinhaltet, das den unbedingten Willen verrät, zumindest die Grenzen des nicht Verbotenen durch alle Grauzonen auszureizen. Und: Salazar leitete das Nike-Projekt von 2001 bis vor acht Tagen, als ihn das Urteil aus der Leichtathletik-WM in Doha riss.
Am "schockierendsten", heißt es im Umfeld der Fahnder, empfinde man den Umgang der Firma Nike mit der Affäre. Bis zuletzt war Salazar eng mit der Konzern-Spitze verbandelt, die Mail zur Carnitin-Infusion, die er Armstrong schickte, ging auch an Vorstandschef Mark Parker und Innovations-Chef Tom Clarke. Parker hatte überdies eine Nachricht erhalten, in der Salazar berichtete, wie er seinen Söhnen Testosteron-Gel verabreichte, um im Urin zu ermitteln, welche Menge unter der Doping-Nachweisschwelle liegt. Nike vertrat dabei Salazars Erklärung, er habe da nur Schutzmaßnahmen erprobt - für den Fall, dass böse Rivalen seinen Athleten mal eine Testosteronsalbe einmassieren würden.
Willkommen im höchstentwickelten Trainingscamp des Weltsports. Da es vermutlich nicht so oft vorkommt, dass sich ausgerechnet die top gesteuerten Stars des Nike-Projekts von Wildfremden gefährliche Salben auftragen lassen, spricht diese Erklärung für sich selbst.
Nike, heißt es im Lager der Dopingbekämpfer, habe bis heute auch keinen Versuch gemacht, die Whistleblower in dieser Affäre zu schützen, die jahrelang unter Stress-Symptomen litten; und man habe auch keine unabhängige Untersuchung der Vorgänge im eigenen Camp angeschoben. Nicht mal eine Entschuldigung liegt vor. Stattdessen habe der Konzern, schätzt eine Quelle, fünf bis zehn Millionen Dollar in die Anwaltskosten für Salazar und dessen ärztlichen Doppelpartner Jeffrey Brown gepumpt. Der texanische Endokrinologe Brown wurde als Mithelfer für vier Jahre gesperrt; das Urteil offenbart, wie listig seine Topanwälte an allen Schrauben drehten, um das Verfahren in die Länge zu ziehen. "Wir wurden auf Schritt und Tritt blockiert", sagt Usada-Chef Travis Tygart.
Dazu passt, dass die Parteien Salazars und Browns lange zu verbergen versuchten, dass sie eine Verteidigungs-Vereinbarung mit Nike hatten. Im Brown-Verfahren rügte die Usada, dass diese Vereinbarung "es Nike in Verbindung mit dem Einfluss in der Leichtathletik ermöglicht hat, Aussagen zu koordinieren und die Erstellung von Dokumenten im Schiedsverfahren zu kontrollieren". Salazar weist alle Vorwürfe zurück, er will das Urteil anfechten.
Nikes stark irritierende Haltung: Die Firma schützt einen Lauf-Guru, der sogar selbst Sportlern Medikations-Anweisungen gab und sie auch nicht informierte, dass er über Brown Einblick in ihre Patientenakten nahm. Und sie schützt einen Arzt, der NOP-Athleten reihenweise eine Unterfunktion der Schilddrüse attestierte - denn nach Aktenlage war dies ein wesentlicher Trick, um sie mit entsprechenden Hormonen traktieren zu können, die ihre Testosteron-Spiegel erhöhten. Die US-Läuferin Kara Goucher sagte aus, Browns Rolle im NOP habe sie "sehr besorgt, weil jeder im Team eine Schilddrüsenunterfunktion hatte". Kollegin Lindsay Allen-Horn hatte diese Gerüchte schon gehört, bevor sie bei Nike andockte: Das Oregon-Projekt habe ein Schilddrüsenproblem. Als Salazar sie dann zu Brown schickte, wurde auch ihr prompt die Einnahme von Schilddrüsen-Arznei verordnet.
Was das für das Projekt heißt, für all die Läufer, die darauf pochen, dass sie keine Salazar-Schüler seien? Usada-Chef Tygart sagt: "Schon unseren Kindern trichtern wir ein, dass sie über die Leute definiert werden, mit denen sie sich abgeben!" Es werde natürlich Fragen geben an Salazars Vorzeigeathleten wie Rupp, Mo Farah, Matthew Centrowitz. Und an alle anderen: Wie wahrscheinlich ist es, dass innerhalb eines Projekts zwei verschiedene Kulturen Platz haben?
Lance Armstrong übrigens war 2012 bei seinem ersten Ironman-70.3-Sieg in Florida nicht nur auf dem Rad der Schnellste, sondern auch beim Laufen; bis heute hält er den Streckenrekord. Wochen später siegte er beim 70.3 auf Hawaii. Dann kam die Dopingsperre und vereitelte alle Karrierepläne. Ob er infundiert hatte oder nicht, wird man wohl nie erfahren. Sicher ist nur: Wäre er jene 16 Minuten, die ihm Nike-Kollege Salazar per Mail als Leistungsgewinn angepriesen hatte, langsamer gewesen, hätte er es nie aufs Siegerpodest geschafft. Nicht in Florida, und nicht in Hawaii.