Fußball-WM:Russland badet in Ekstase

  • WM-Gastgeber Russland wirft im Elfmeterschießen überraschend Spanien aus dem Turnier und steht im Viertelfinale.
  • Torwart Akinfejew, der vor der WM als Unsicherheitsfaktor galt, pariert zwei Elfmeter.
  • Das Stadion in Moskau wird zum Teil des Spiels - mit maximaler Lautstärke.

Von Martin Schneider, Moskau

Der Lärm schwoll an. Er wurde größer und größer, Schallwellen trafen sich über dem Mittelkreis des Luschniki-Stadions und vereinigten sich, irgendwann konnte man ihre Energie greifen. Sie flogen hinaus auf die Moskwa, und wahrscheinlich schreckten dort ein paar Enten auf. Jeder Zuschauer in Rot-Weiß-Blau schickte im Luschniki-Stadion seinen Ruf aufs Spielfeld, dabei hatte Torwart Igor Akinfejew doch gerade nur diesen harmlosen Schuss in der 119. Minute der Verlängerung von Rodrigo Moreno gehalten. Aber das Stadion, es war längst Teil dieses Achtelfinales zwischen Russland und Spanien geworden, jede einzelne Aktion eines Spielers in Weiß wurde mit einer Laustärke gefeiert, als würde man unter einer starteten Rakete in Baikonur liegen. Gewonnener Kopfball: Jubel. Ansatz eines russischen Konters: Eskalation. Parade von Akinfeev: Menschen sprangen auf und lagen sich in den Armen.

Die Russen auf den Rängen, sie hatten mit jeder Faser begriffen, was den Spaniern auf dem Platz zu diesem Zeitpunkt nicht so klar zu sein schien: dass es hier die Sensation immer noch drin war, dass es in der Verlängerung nur 1:1 stand. Und damit zum Elfmeterschießen.

Die ersten Elfmeter waren drin, dann hielt der vom Publikum bei jeder Parade gefeierte Akinfejew den Ball von Koke mit einem katzenhaften Sprung nach vorne. Dann kam Sergio Ramos. Ramos ist der Meister der psychologischen Kriegsführung, er verzögerte, guckte Akinfeev aus, schob den Ball rein. Und dann ging er dem Ball hinterher, nahm ihn ganz langsam auf, gab ihm den Russen Tscheryschew in die Hand und schickte noch ein paar Worte hinterher. Aber auch das nutzte nichts, der Ball war drin. Als der junge Iago Aspas dann zum entscheidenden Schuss antreten musste, war Ramos noch nicht im Mittelkreis - was man aber laut Reglement sein muss. Schiedsrichter Björn Kuipers schickte ihn zurück, Aspas hatte dank Ramos noch mehr Zeit zum Nachdenken.

"Ich denke, der Mann des Spiels sollte die Mannschaft sein. Oder die Fans"

Igor Akinfejew, der in Deutschland nach der vorherigen WM 2014 "Akinfehler" genannt wurde, riss dann im Fallen seinen linken Fuß hoch zum Ball, und man muss den Architekten im Luschniki-Stadion danken, dass das Dach von massiven Stahlträgern gehalten wird, sonst wäre es in diesem Moment bis zum Roten Platz geflogen. Der Schrei nach der Parade wanderte aus dem Stadion über Moskau nach Osten über den Ural und den Baikalsee bis nach Wladiwostok, vielleicht zitterte auch in Sibirien noch die Luft von dieser Explosion am Ufer der Moskwa. Ganz Russland badete in Ekstase, eine Arena schwamm in Euphorie, niemand wusste wohin mit all dem Wahnsinn, weil damit dann doch keiner wirklich gerechnet hatte. Saudi-Arabien und Ägypten schlagen, ok, aber Spanien? Ernsthaft?

Akinfejew wurde zum "Mann des Spiels" gewählt, als er zur Pressekonferenz erschien, wurde er von einem Chaperon, einem Aufpasser, begleitet. Akinfejew wurde zur Dopingkontrolle gelotst, er beantwortete nur eine Frage. Ob er sich freue, der Mann des Spiels zu sein, fragte ein Fifa-Mitarbeiter. "Ich denke, der Mann des Spiels sollte die Mannschaft sein. Oder die Fans", sagte er. Dann ging er mit seinem Aufpasser wieder nach draußen. An den Fernsehmikrofonen sagte er: "Das ist eine fantastische WM. Nicht nur unsere Fans, sondern alle Zuschauer spüren diese Atmosphäre. Die Fans sehen jetzt, dass wir Russen genau wissen, wie man Fußball spielt." Vor dem Turnier war Akinfeev der Unsicherheitsfaktor, auch Russen spotteten über ihn. Nun wird er Teil der Ahnengalerie werden und er hatte natürlich Recht damit, als er die Auszeichnung an die Fans weitergab. Russland gewann dieses Spiels auch, weil sie ein Heimspiel hatten.

Stanislaw Tschertschessow, der Trainer dieser Mannschaft, einst Publikumsliebling bei Dynamo Dresden und nun Publikumsliebling in Russland, sagte nach dem Spiel ernsthaft: "Ich muss mir meine Emotionen aufsparen, ich denke nur an das nächste Spiel." Auf dem Platz sah es jedenfalls für einen Moment so aus, als könne er seine Emotionen überhaupt nicht aufsparen, beim Interview sah es so aus, als könnte er eine Träne geweint haben - aber vielleicht war es auch der Schweiß.

Spanien spielt Hypnose-Fußball

"Wir müssen uns nun erholen, wir haben 120 Minuten gespielt", sagte Tscherschessow, während sein Social-Media-Team ein Video aus der Kabine verbreitete, in dem Spieler auf dem Tisch tanzten. Juri Shirkow, der Außenverteidiger-Veteran, werde wohl für den Rest des Turniers ausfallen, sagte Tscherschessow: "Außer, man erreicht das Finale."

Man will ja nichts mehr ausschließen bei dieser WM, nachdem sich nun auch Spanien verabschiedet hat. Russland, Kroatien, Dänemark, Schweden, Schweiz, Kolumbien oder England - eines dieser Teams wird auf jeden Fall das Endspiel in Moskau bestreiten. Dass Russland dabei sein könnte und Spanien nicht dabei ist, das lag bei aller Euphorie für Akinfeev auch am sensationell uneffektivem Passspiel der Spanier.

Sergio Ramos brachte sein Team in Führung, weil er Alexander Ignaschewitsch so in einen Zweikampf verwickelte, dass der ein Eigentor schoss. Das Spiel hätte nach zwölf Minuten schon entschieden sein können, aber Spanien wollte es nach Hause verwalten und erlaubte Russland immer wieder, wenigstens Eckbälle oder Freistöße heraus zu holen. Gerard Piqué sprang ungeschickt hoch, und weil ihm der Ball dann an die Hand geköpft wurde, gab es Elfmeter. Artem Dsjuba schoss den Ausgleich gegen David de Gea, aus dem vermutlich kein Elfmeter-Töter mehr wird.

Der Grund, warum Spanien aber durchaus verdient ausscheidet, lag in der zweiten Halbzeit. Das Team von Fernando Hierro spielte endlose Pass-Folgen ohne Ziel. Busquets-Koke-Ramos-Isco-Koke-Busquets-Piqué-Asensio-Koke-Busquets-Koke-Ramos-Isco-Koke-Busquets-Piqué-Asensio-Koke-Busquets - so ging das immer und immer weiter um den Sechzehner der Russen herum, ohne dass eine Flanke oder ein Steilpass oder irgendwas passierte. Es war Hypnose-Fußball, eine Taktik, die sich buchstäblich im Kreis, oder in diesem Fall im Halbkreis drehte. Unfassbare 1137 spanische Pässe zählten die Statistiker später. Russland ließ sich aber nicht einschläfern - und die Fans auch nicht. Sie feierten jeden gewonnen Zweikampf. "Wir wollten sie müde spielen und dann in der Verlängerung zuschlagen", sagte Trainer Hierro später. Zugegeben: In der Verlängerung hatte Spanien bessere Chancen - aber mit aller Macht wollte das Team das Elfmeterschießen auch nicht verhindern.

Dann kam Akinfeev, und mit Spanien verabschiedet sich nach Deutschland, Portugal und Argentinien der nächste Titel-Favorit.

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