Russland bei der Fußball-WM:Und jetzt bitte: Stimmung!

Russische Fans bei der WM 2018

Fünf Tore für Russland - mancher Fan jubelt ungläubig.

(Foto: dpa)

Von Martin Schneider, Moskau

Und dann rief Putin an. Der russische Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow saß auf dem Podium der Pressekonferenz, er war sehr gut gelaunt, als er auf sein Smartphone sah. Neben ihm erklärte sein Spieler Denis Tscheryschew gerade, wie genau er dieses 2:0 gemacht hatte ("Es war eine schnelle Situation, der Pass war ein bisschen zu kurz, die Verteidiger rutschten, und ich habe dann einfach versucht, den Ball gut zu treffen"), da verließ Tschertschessow den Raum.

Weil er den Anruf nicht wegdrückte, kann man schlussfolgern, dass er Wladimir Putins Nummer eingespeichert hat. Oder ihm jemand eine Nachricht geschrieben habe, dass der Präsident gleich anrufen würde. Jedenfalls ging er aus dem Raum, kam nach einem kurzen Moment wieder zurück und fragte dann fröhlich, ob man über ihn gelästert habe, während er weg war. Als ein Journalist nach dem Anrufer fragte, antwortete er: "Der Präsident hat mir seinen Dank ausgedrückt. Wir sollen so weiterspielen, und ich soll dem Team Glückwünsche ausrichten."

Vor dem Spiel brachte jeder sein Kostüm mit

Putin hat allen Grund mit diesem Tag zufrieden zu sein. Hätte er sich das Eröffnungsspiel seiner Fußball-WM malen können, er hätte vielleicht noch ein paar Wolken am Himmel weggeschoben und ein paar Sitzplätze auf der Haupt- und Gegentribüne befüllt (die während des Spiels auffallend leer blieben) - aber sonst wäre da nicht mehr viel gegangen. Stattdessen sprach er vor dem Anpfiff aus seiner Loge zur Welt, die Spieler schauten vom Rasen zu ihm auf. Während des Spiels holte er sich die Glückwünsche vom saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman ab. Dieser reichte ihm mehrfach über den Schoß von Fifa-Präsident Gianni Infantino die Hand.

Das 5:0 von Russland gegen die überforderten Kicker aus Saudi-Arabien war der höchste WM-Auftaktsieg seit 1934 und viel mehr, als sich die Mannschaft nach den enttäuschenden Testspielen erhofft hatte. Genau genommen war das der erste Sieg seit Oktober 2017. Selbst das Staatsfernsehen hatte damit nicht gerechnet. Der Sender konzentrierte sich in seiner Vorberichterstattung lieber auf organisatorische Fragen der WM und die Stimmung der vielen Fans aus aller Welt - die sportlichen Chancen der eigenen Mannschaft standen nicht im Mittelpunkt. Der Optimismus in der Bevölkerung war noch verhaltener, laut einer Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts VTsIOM glaubten 19 Prozent vor dem Turnier an ein Aus in der Vorrunde.

Auf dem Weg zum Stadion sah man dann auch weniger vorfreudige russische Fans, sondern Fahnen aus der ganzen Welt: Kolumbianer, Argentinier, sehr viele Mexikaner, aber auch usbekische und katarische Fahnen, obwohl beide Mannschaften gar nicht bei der WM dabei sind. Das hatte etwas von Karneval der Kulturen: Jeder brachte sein Kostüm mit. Die unzähligen Fernsehanstalten stürzten sich mit ihren Kameras auf jede Gruppe, die anfing zu singen. Saudische Sender postierten Anhänger in Halbkreisen, und wenn sie auf Sendung waren, gab der Kameramann dann das Zeichen zum Liederanstimmen. Atmosphäre auf Kommando.

Auch im Stadion, vor allem in der langen Phase, in der Russland 2:0 führte, wurde es irgendwann sehr ruhig, was aber auch schon beim Confederations Cup vor einem Jahr so war. Wenn nichts passiert, macht der normale russische Fußballfan keinen Krach. Die zwei Tore in der Nachspielzeit waren dann nochmal ein Turbo - gut möglich, dass nun die skeptische russische Bevölkerung ihr Nationalteam für sich entdeckt. "Gib fünf, Russland!", jubilierte die Zeitung Sport-Express am Morgen danach: "Wir lieben dich! Danke, Jungs. Mehr davon!" Genau das war die Hoffnung von Fifa und Russland, seit klar war, dass die Auslosung dem Gastgeber in einer schwachen Gruppe das schwächste Team zum Auftakt beschert hat.

Russland fürchtet Mo Salah

Womit man bei der Frage angelangt wäre, was dieses 5:0 eigentlich sportlich wert ist. Trainer Tschertschessow sprach in der Pressekonferenz nach dem Präsidenten-Anruf nüchtern analytisch. "Wir haben ein Crescendo", sagte er in der Musiker-Sprache, und meinte damit eine Steigerung: erst der schwächste Gegner, dann mit Ägypten der mittelstarke, dann mit Uruguay der stärkste. "Die Gefahr, dass wir abheben, besteht nicht. Wir haben die Erfahrung aus dem Confederations Cup - da hatten wir das erste Spiel 2:0 gewonnen und es hat uns nichts gebracht", sagte Tschertschessow.

Russland schlug vor einem Jahr Neuseeland und schied trotzdem in der Gruppenphase aus. Ein großer Faktor im nächsten Spiel wird sein, ob Stürmer Mo Salah fit ist oder nicht, sagte Tschertschessow. "Mit ihm ist Ägypten noch stärker", sagte der Trainer und bedauerte sehr den Ausfall seines Regisseurs Alan Dsagojew, der ohne Gegnereinwirkung auf dem Feld zusammensackte und mit einer Muskelverletzung wahrscheinlich ausfallen wird. "Wir haben nicht so viele Spieler auf diesem Level", sagte Tschertschessow.

Auch darum meinte er, niemand müsse seiner Mannschaft "die Kronen vom Kopf nehmen". Es bestehe nicht die Gefahr, den Kontakt zur Realität zu verlieren. Er stimmte sogar seinem Trainerkollegen Juan Antonio Pizzi zu, der meinte, Russland habe habe heute gar keine so besondere Leistung für diesen Erdrutschsieg bringen müssen. Pizzi wurde übrigens von den saudischen Journalisten gefragt ob er - erstens - Russland überhaupt analysiert habe und - zweitens - ob er die Mannschaft während des Turniers weiter betreuen wird. Der stolze Argentinier ertrug das mit unterdrückter Wut.

"Wichtig ist, dass die Begeisterung im ersten Spiel im Land da ist", sagte Tschertschessow dann noch. Das ist die große Hoffnung und auch das Kalkül. Denn am ersten WM-Tag hat die Regierung in Moskau eine Erhöhung der Mehrwertsteuer (von 18 auf 20 Prozent) und erstmals seit 80 Jahren eine Anhebung des Pensionsalter (bei Frauen von 55 Jahren auf 60 Jahren bis 2034, bei Männern von 60 auf 63 Jahren bis 2028) beschlossen. Ob der Präsident sich auch deswegen für das 5:0 bedankt hat, darüber sprach Tschertschessow natürlich nicht.

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