Russische Nationalelf:"Wir müssen herausfinden, ob sie gesund sind"

WM 2014 - Russland

Ausgeschieden in der Vorrunde: Russlands Nationalelf bei der WM 2014 (hier vor dem Spiel gegen Südkorea).

(Foto: dpa)
  • Russland, Doping, Fußball: Dieser Dreiklang schreckt die Fifa und den WM-Gastgeber auf.
  • Jetzt verstärken Dokumente über eine offenkundige Ausreisekontrolle den Verdacht, dass die russische Nationalelf vor der WM 2014 ins Manipulationssystem involviert war.
  • Der Weltverband muss ermitteln.

Von Johannes Aumüller und Thomas Kistner

Russland im Frühsommer 2014. Noch zwei Wochen sind es bis zum Anpfiff der Fußball-WM in Brasilien; groß sind die Hoffnungen und Erwartungen auch im Lande des zukünftigen Turnierveranstalters. Am 2. Juni gibt Nationaltrainer Fabio Capello den Kader der russischen Auswahl bekannt. Und nur zwei Tage später ergeht aus dem russischen Sportministerium eine denkwürdige Mail an das Moskauer Doping-Kontrolllabor.

"Sehr geehrter Grigorij Michajlowitsch", heißt es, "ich sende eine Liste der ersten Fußball-Nationalmannschaft, die am 3. Juni getestet worden ist. Wir müssen herausfinden, ob sie gesund sind! Vielen Dank! Hochachtungsvoll, Alexej Welikodnij!" Die angekündigte Liste umfasst 24 Namen. Das ist exakt die Anzahl der Profis im WM-Kader der Sbornaja, inklusive eines mittrainierenden Reservisten. Offenkundig verabreden Ministerium und Labor hier eine Ausreisekontrolle, bevor es zur WM nach Brasilien geht - damit dort kein russischer WM-Kicker mit einem Positivtest auffallen kann? Weshalb sonst sollen Urinproben zeigen, ob Athleten "gesund" sind?

Ausreisekontrollen waren schon in der DDR ein zentraler Pfeiler des Dopingsystems. Athleten wurden in abgeschotteten Trainingscamps nach Kräften und den Vorgaben des Staatsplanthemas 14.25 gedopt. Aber das Land verlassen für internationale Wettkämpfe durfte nur, wer die Stoffe abgebaut hatte und nicht mehr positiv war; das klärten die Tests kurz vor der Ausreise.

Russland, Fußball, Doping: Das ist der explosive Mix, um den es nun bis zur WM 2018 gehen wird. Denn angesichts von Dokumenten, welche die SZ ausgewertet hat, spitzt sich die Verdachtslage um den WM-Kader der Sbornaja 2014 zu.

Die Papiere zeichnen eine ziemlich eindeutige Situation

Kürzlich berichtete die Daily Mail, dass der Weltverband Fifa einen Doping-Verdacht gegen das WM-Team von 2014 prüfe. Am Mittwoch präsentierte der kanadische Rechtsprofessor Richard McLaren, der in seinem für die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) erstellten Report in Russland ein staatlich orchestriertes Manipulationssystem nachgewiesen hatte, in einem ARD-Beitrag einen neuen Verdacht. Er gehe davon aus, dass in Russland für den Fußball ein spezielles Vertuschungssystem existierte: "Es gab offenbar eine Bank mit sauberem Urin, und diese Bank wurde offenbar für Fußball genutzt." Zudem tat McLaren erstmals kund, dass es insgesamt 155 auffällige Kicker-Proben gebe, die noch gar nicht analysiert worden seien.

Jetzt erhärten die von der SZ ausgewertete Dokumente den Verdacht, dass Russlands Nationalkader 2014 Teil des Manipulationssystems war. Und dass die Fifa von diesem auch politisch heiklen Verdacht seit Monaten weiß und deshalb das komplette damalige WM-Aufgebot untersuchen müsste - so verlangen es jedenfalls die internationalen Anti-Doping-Regeln.

Die Papiere der McLaren-Ermittlung, die via Wada an die Fifa gereicht wurden, zeichnen eine ziemlich eindeutige Situation. Der Sonderermittler hatte neben der Publikation seines Reports im Dezember eine umfangreiche Sammlung an Mails, forensischen Berichten und sonstigen Belegen ins Internet gestellt. Nahezu alle betroffenen Athleten aus mehr als 30 Sportarten sind dort anonymisiert und mit Codes versehen. Drei dieser Dokumente sind besonders interessant.

Zu den Schlüsselpapieren aus dem Fundus zählt eine 34 Seiten lange Tabelle, auf der rund 1000 Sportler stehen. Sie fasst all jene Athleten zusammen, die nach den Erkenntnissen von McLarens Team in irgendeiner Form mit Russlands Manipulationssystem in Verbindung gebracht werden konnten. Das ist noch kein Beweis für Doping. Es ist aber der Auftrag des Sonderermittlers an die jeweiligen Weltverbände, sich diese Sportler genau anzuschauen. Es ist ein klarer Auftrag auch an die Fifa.

Im Dokument sind Geschlecht, Sportart, Probennummer sowie gegebenenfalls Hinweise auf eine verbotene Substanz sowie das an das Wada-Probenregister Adams gemeldete Ergebnis vermerkt. Darunter sind 34 Fußball-Fälle. Einer im Frauenfußball, drei im russischen Ligabetrieb, von denen einer einen aktuellen Nationalspieler betreffen soll, und sechs im Juniorenbereich. Bei diesen lässt sich nachvollziehen, wie das Moskauer Labor offenkundig eine verbotene Substanz entdeckte, aber nach Rücksprache mit dem Sportministerium die Kicker als "negativ" ins internationale Melderegister eintrug. So geschah es etwa im Sommer 2013 und im Frühjahr 2014 im Falle von Juniorennationalspielern, die unter anderem vor EM-Turnieren mit erhöhtem Testosteron-Quotienten oder mit Unmengen Cannabis im Körper unterwegs waren. Daneben bleiben: weitere 24 codierte Fußballer.

Mehrere filmreife Tricks

Wer nun die mehr als 1000 Dokumente McLarens im Internet durchforstet, stößt auf ein Dokument, das gebündelt alle Probennummern wiedergibt, die zu diesen 24 Fußballer-Codierungen gehören; aufgereiht in einer Liste, die den Dateinamen "Kontrolle 3. Juni 2014" trägt. Hinter jedem geschwärzten Namen wurde der 3. Juni sogar noch einmal separat vermerkt. Und beglaubigt wird das Ganze durch die Mail, die tags darauf Alexej Welikodnij aus dem Sportministerium an den Kontrolllaborchef Grigorij Rodtschenkow schrieb.

Der Fifa liegt dieses Wissen seit Monaten vor. Explizit mit diesen Dokumenten konfrontiert, wiederholt sie nur ihr übliches, vages Statement: Untersuchungen liefen, man wolle keine Details nennen - und merkwürdigerweise nicht einmal, wer diese Ermittlungen führt. Die Wada teilte der SZ mit, sie erwarte "ungeduldig" die Ergebnisse des Weltverbands, und versicherte, sie helfe allen Verbänden, jede Art Beweise in der Datenbank zu finden.

Russische Nationalelf: Diese Mail aus dem Sportministerium an Laborchef Rodtschenkow sowie diese Liste aus dem Fundus des Doping-Ermittlers McLaren bringen die Fifa und Russlands Fußball in Schwierigkeiten. Bearbeitung: SZ-Grafik

Diese Mail aus dem Sportministerium an Laborchef Rodtschenkow sowie diese Liste aus dem Fundus des Doping-Ermittlers McLaren bringen die Fifa und Russlands Fußball in Schwierigkeiten. Bearbeitung: SZ-Grafik

Russlands Verband antwortete auf Anfrage nicht. Er hatte sich in den vergangenen Tagen beim Aufkommen der Doping-Thematik stets empört gezeigt. In Russlands Fußball habe es kein Doping gegeben und werde es kein Doping geben, behauptete Witalij Mutko, Vize-Premier und Chef des Fußballverbandes. WM-Chefplaner Alexej Sorokin bezeichnete die Vorwürfe gar als absichtlich falsch. "Es ist sehr bizarr, dass dies jetzt aufkommt", zürnte er.

In McLarens 34-seitiger Gesamttabelle ist hinter allen Mitgliedern der WM-Fußballauswahl die Spalte "Substanz" leer, in der Spalte "Adams" lautet der Eintrag "negativ". Das muss keineswegs heißen, dass alles okay war. Das russische System hatte, wie McLaren nachwies, in verschiedenen Sportarten zu verschiedenen Zeiten verschiedene Manipulationspraktiken parat. Eine sah vor, Positivtests einfach verschwinden zu lassen. Das Labor informierte das Sportministerium über alle Positivtests - und die Behördenspitze entschied in jedem einzelnen Fall auf "save" oder "quarantine". "Save" bedeutete, das Labor solle den Positivbefund als negativ in Adams einspeisen. Das sei in mehr als 500 Fällen geschehen, hält McLaren fest.

Es gab mehr filmreife Tricks: Vor den Heim-Winterspielen in Sotschi 2014 legten die Manipulateure eine "Bank" mit sauberen Urinen an, um erforderlichenfalls positive Proben austauschen zu können. Diese Methode, vermutet McLaren jetzt öffentlich, sei separat auch für den Fußball angewendet worden. Er stützt das auf den dokumentierten Mailverkehr russischer Funktionäre. Dort wird etwa im Juni 2015 von einem anonymen Verfasser der Fund von Dexamethason im Urin eines Profis der ersten russischen Liga moniert, ein verbotenes Stimulanz. Betroffen sei die Probe "3878295". Dann wurde ein möglicher Austausch erörtert. "Nach unseren Informationen", sagte McLaren, "wurde versucht, diese Probe auszutauschen."

Große Skepsis herrscht bei den Betrugsbekämpfern, ob die Fifa das Thema wirklich anpackt. Denn tatsächlich hat das Aufklärungsprozedere gewaltige Schwächen - zuständig für die Nachtests der verdächtigen 155 Proben ist der Weltverband selbst. Das ist ein enormer finanzieller Interessenskonflikt: Die Fifa muss herausfinden, ob es 2014 eine Dopingverschwörung gab, die in der Konsequenz ihr werthaltigstes Produkt, die Fußball-WM, beschädigen würde. McLaren hat die Fifa auf die Existenz der 155 Proben hingewiesen. Aber auf die Anfrage, wie der Umgang des Weltverbands mit möglichen Positivfällen kontrolliert werden kann, hüllt er sich ebenso wie die Wada in Schweigen.

Der reiche, vom Rest des Sports unabhängige Fußball hat stets ein eigenes Testsystem betrieben, um Glaubwürdigkeit scherte er sich nie. Und so wird, wenn 2018 in Russland die WM stattfindet, die Wada nur unbeteiligter Zaungast sein; wie bei allen Turnieren zuvor. Denn die Fifa kontrolliert sich selbst. Hätte es bei vergangenen Weltmeisterschaften Positivfälle gegeben, wären diese stets zuerst auf dem Tisch von Leuten gelandet, gegen die heute Strafbehörden ermitteln: Fifa-Chef Sepp Blatter und Generalsekretär Jerome Valcke.

In Brasilien 2014 schied Russlands Sbornaja übrigens schon in der Vorrunde aus.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: