WM in Japan:Rugby-Riesen im aufgeräumten Inselstaat

Japan v Russia - Rugby World Cup 2019: Group A

Alle Mann auf einem Haufen: Die Mannschaften von Gastgeber Japan (rechts) und aus Russland treffen im WM-Eröffnungsspiel zu einem Gedränge aufeinander.

(Foto: Adam Pretty/Getty Images)
  • Die Rugby-Weltmeisterschaft in Japan ist die erste in Asien, was dem Turnier einen besonderen Reiz gibt.
  • Rund um das Turnier gibt es wirtschaftliche Interessen der Regierung und der Rugby-Verantwortlichen.
  • Das japanische Tem ist ein bewährter Außenseiter. Im ersten Duell gab es einen Erfolg gegen Russland.

Von Thomas Hahn, Tokio

Die Kleiderordnung im weiten Rund des Tokio-Stadions wirkte ein bisschen einseitig. Auf den Rängen rund um das Feld, auf dem Japans Rugby-Mannschaft ihr WM-Eröffnungsspiel gegen Russland bestritt, schien fast jeder das rot-weiß gestreifte Trikot der Heimmannschaft angelegt zu haben. Es war die Tracht zu einem kleinen japanischen Fest, das letztlich wie bestellt ablief. Die Russen hatten starke erste Minuten, aber am Ende waren sie chancenlos. 30:10 für alle in Rot-Weiß. Applaus. Sprechchöre des Dankes. Japans Rugby-Spieler hatten den perfekten Einstieg in ein Turnier gefunden, das etwas Besonderes werden soll.

Die Rugby-WM in Japan hat begonnen. Sie wird bis zum 2. November sehr viele Menschen auf der ganzen Welt beschäftigen. Die Deutschen eher weniger, denn für die ist Rugby das, was für Tonga oder Neuseeland Biathlon und Skispringen ist: Sport von einem anderen Planeten. Man wüsste gerne, ob sich daran etwas geändert hätte, wenn die deutsche Rugby-Nationalmannschaft vorigen November beim Qualifikationsturnier um den letzten freien WM-Platz an Kanada vorbeigekommen wäre. Man wird es nie erfahren, die 10:29-Niederlage war damals nicht knapp. Deshalb bleibt es erst einmal dabei: Das alte europäische Strategie-Kampfspiel, die Urform des American Football, von rund zehn Millionen Menschen weltweit betrieben, liegt in der Gunst der Deutschen weit hinter einer eher regional verbreiteten Spezialistensportart wie Bobfahren.

Ein bisschen rüberlinsen kann man ja trotzdem mal zum kantigen Personal dieser großen Nicht-Fußball-WM. Man erlebt dabei einen Sport, der endgültig mehr sein will als ein Nationalspiel für Commonwealth-Staaten. Die neueste Auflage ist laut Verband World Rugby natürlich wieder die tollste, schönste, einträglichste, am besten besuchte, mit den fittesten Schiedsrichtern besetzte und von den klügsten Nachhaltigkeitsprogrammen begleitete Rugby-WM der Geschichte. Vor allem aber ist sie die erste in Asien, und das gibt dem Turnier einen besonderen Reiz: Die Weltgemeinschaft der Rugby-Riesen fällt im aufgeräumten Inselstaat Japan ein, in dem die Menschen leise, freundlich und, ehrlich gesagt, auch ziemlich konfliktscheu sind. Leidenschaft fürs Grobe trifft auf die Eleganz der Feingliedrigen. Welten prallen aufeinander. Geht das?

Japans Team ist ein bewährter Außenseiter

Es muss, denn es gibt höhere Interessen. Japans konservative Regierung hat Sportfeste als Treiber für Investoren und Wirtschaftswachstum entdeckt. Vor Olympia und Paralympics 2020 passt deshalb die Rugby-WM gut ins Konzept. Und World Rugby wünscht sich mehr Asien-Geltung, weil dort Menschen und Sponsoren sind, die den Sport größer machen. Als Anschubveranstaltung für eine neue Rugby-Begeisterung unter Japans Jugendlichen ist sie gedacht, sagen die Funktionäre. Shigetaka Mori, Präsident der japanischen Rugby-Union, behauptet sogar: "Dieser Weltcup wird die brillante Zukunft des Rugbysports zeigen."

Für die Japaner ist Rugby eine zwiespältige Sache. Dieses Spiel setzt sie wie kaum ein anderes den Härten und Herrlichkeiten der Vielfaltswelt aus. Es zeigt ihnen ihre Möglichkeiten und ihre Grenzen, es holt sie raus aus ihrer Welt mit eigener Religion, eigenem Kampfsport, eigenen Ritualen und zwingt sie, sich von anderen leiten zu lassen. Ausländer haben die Geschichte der Nationalmannschaft geprägt, auch im aktuellen WM-Team stehen einige naturalisierte Männer. Kapitän Michael Leitch zum Beispiel ist gebürtiger Neuseeländer, der die japanische Kultur allerdings so sehr angenommen hat, dass er von sich behauptet, heute besser Japanisch als Englisch zu sprechen. Und Chefcoach Jamie Joseph ist auch Neuseeländer, ein Maori und früherer WM-Finalist für die All Blacks, ehe er später für Japan spielte. Wer glaubt, Japan sei ohne Zuwanderung ein besseres Land, kann sich vom Rugby-Nationalteam das Gegenteil zeigen lassen.

Trotzdem, Japans Team hat es nicht leicht in der Rugby-Welt. Es ist ein bewährter Außenseiter, in Asien unumstritten als 23-maliger Kontinentalmeister, seit der ersten WM 1987 immer dabei. Aber über die Vorrunde ist die Mannschaft noch nie hinausgekommen. In ihrer Bilanz steht ein schlimmes 17:145 gegen die Rugby-Großmacht Neuseeland (1995). Selbst das denkwürdige 34:32 über den früheren Weltmeister Südafrika bei der WM 2015 in England hat nicht nur Segen gebracht. Es ist mittlerweile verfilmt und eingebrannt in den Mythos der Brave Blossoms, wie Japans Team im Rugby-Sprech heißt. Es zeigte den Japanern, was geht, aber war trotzdem kein Sieg, auf dem man aufbauen konnte. "Die ersten beiden Jahre danach waren ein Kampf", sagt Coach Joseph.

Trainer Jamie Joseph musste einen neuen Kader formen

Jamie Joseph, 49, ist der Typ Mensch, von dem man sich gerne beim Umzug helfen lassen würde. 1,96 Meter, mächtige Arme, sehr umgänglich. Rugby betrachtet er mit dem heiligen Ernst eines Experten, der nichts dem Zufall überlassen will. Und er hat keine Angst davor, öffentlich über Schwierigkeiten zu sprechen. Vielleicht tut er das auch aus Selbstschutz, um die Erwartungen kleiner zu kriegen. Aber den Eindruck zu erwecken, als sei es ein Kinderspiel gewesen, Japans Mannschaft in einen Zustand zu versetzen, der sie zu einem Anwärter für das Viertelfinale macht, wäre sicher auch nicht angemessen.

Joseph übernahm den Posten 2016 und stand sozusagen vor den Ruinen des großen Sieges von Brighton. Viele Spieler hatten aufgehört oder ein unrealistisches Selbstbild entwickelt, gleichzeitig waren die Erwartungen mit Blick auf die Heim-WM enorm. "Bei unserer ersten Tour durch Großbritannien waren nur noch sechs Teilnehmer von der WM 2015 dabei", sagt Joseph. Er musste einen neuen Kader formen aus Spielern, die kaum Erholung hatten zwischen ihren Verpflichtungen als Firmenteam-Angestellte und potenzielle Heim-WM-Teilnehmer.

So wie es aussieht, ist ihm das gelungen. Gegen Russland wirkte die Mannschaft nur anfangs etwas nervös, ansonsten souverän. Joseph redet über sie wie ein Vater, der auf seine Kinder nichts kommen lässt, über ihre Talente staunt, ihre Schwächen in Schutz nimmt. Seit Januar hat er die alleinige Macht über seine Nationalspieler. Die Bedeutung der WM war offensichtlich groß genug, um sie für die Vorbereitung von ihren Firmenteams loszueisen. Er gab ihnen erst mal einen Monat frei. "Das war ihre erste Pause nach zwei Jahren", sagt Joseph, "ich musste sie dazu zwingen. Japanische Spieler arbeiten gerne jeden Tag." Später nutzte er ihren Fleiß. In den Trainingscamps dauerten die Arbeitstage teilweise von sieben Uhr früh bis neun Uhr abends. "Eine ihrer Stärken ist ihre Belastbarkeit", sagt Joseph, "sie trainieren länger und härter als einige der anderen Athleten, die ich schon trainiert habe." Sein Team wirkt wirklich sehr fit.

Aber die richtig schweren Spiele kommen erst. Schottland und der Weltranglistenerste Irland sind in der Gruppe von Josephs Team. Die ganze japanische Rugby-WM muss erst noch zeigen, welche Atmosphäre sie entwickeln kann nach diesem stimmungsvollen Start mit fast 45 000 rot-weißen Ringelhemden. Es gab Bedenken. Werden die angereisten Fans genug Bier bekommen? Werden die Japaner die Tätowierungen der Gäste akzeptieren, obwohl Tätowierungen bei ihnen als Insignien von Kriminellen gelten? Manche Teams wie Titelverteidiger Neuseeland haben schon erklärt, sie würden ihre Körperbilder abdecken. Immerhin, in der Bierfrage hat Sir Bill Beaumont, der englische Weltverbandspräsident, beschwichtigt. "Man soll die Rugby-Fans nicht unterschätzen. Die finden immer ein Bier." Und auch Japan kann bei einer Rugby-WM vielleicht mehr ertragen, als manche meinen.

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