Rugby:Nahkampf nach der Regenwetter-Formel

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Die Engländer mit ihrem Trainer Eddie Jones fordern im Halbfinale der Rugby-WM den hochfavorisierten Titelverteidiger Neuseeland heraus - es ist auch ein Duell der Spielkulturen.

Von Thomas Hahn, Tokio

Die Frage hängt über den Köpfen wie eine Gewitterwolke, und Billy Vunipola weiß erstmal gar nicht, wie er sie beantworten soll. Vunipola, 26, ist wohl das, was man einen Rugbyweltbürger nennt. Einflüsse von mehreren Rugbynationen finden sich in seinem Lebenslauf: geboren in Australien, Eltern aus Tonga, Kindheit in Wales. Derzeit spielt er für England bei der WM in Japan, Position Nummer acht, und die Frage, die nach schlechtem Wetter klingt, betrifft Neuseeland. Warum, bitteschön, sollte ausgerechnet Team England im Halbfinale von Yokohoma am Samstag den überlegenen Titelverteidiger bezwingen können?

Tja. Vunipola kennt seinen Sport. Er kennt dessen ungeschriebene Gesetze, welche die erbarmungslose Statistik bestätigt: Rugby ist ein Spiel, bei dem 30 Männer einem Ball hinterherrennen und am Ende Neuseeland gewinnt. "Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll ...", fängt Vunipola an. Dann verweist er auf die Kraft der Motivation, etwas Seltenes zu schaffen - und auf Chefcoach Eddie Jones. "Er weiß immer, wie es geht", sagt Vunipola, "das mag nicht ständig klappen, aber er hat die Formel. Vertraue Eddie, und dann kriegen wir hoffentlich die Leistung hin."

Eddie Jones, 59, hat tatsächlich schon ein paar Siege gegen die All Blacks in seiner Bilanz als Cheftrainer stehen. Diese Erfolge stammen allerdings aus jener Zeit zwischen 2001 und 2005, als er die sogenannten Wallabies, das Nationalteam seines Heimatlandes Australien, anleiten durfte. Sie sind also schon eine Weile her. Seither hat sich viel verändert, und gerade die Engländer haben von den All Blacks oft genug vorgeführt bekommen, wer der Herr in der Rugby-Welt ist. Die Rivalität zwischen den beiden Nationalteams spiegelt die Kräfteverhältnisse im versprengten Rugby-Kosmos. Die Teams der südlichen Hemisphäre, für die Neuseeland steht, sind denen aus der nördlichen in den vergangenen Jahrzehnten meistens voraus gewesen. Seit der ersten Weltmeisterschaft 1987 hat England einmal den Titel gewonnen, Neuseeland drei Mal. Seit 1905 hat es 41 Begegnungen der beiden Rugby-Großmächte gegeben, nur sieben Mal haben die Engländer gewonnen.

Naturgewalt mit Ball: Englands Billy Vunipola (Mitte) sprengt im WM-Halbfinale, trotz der Tacklings der Gegner, durch Australiens Abwehrreihen. (Foto: James Crombie/imago)

Und der Unterschied drückt sich nicht nur in Ergebnissen aus, sondern auch in der Spielweise. Das schnelle, offensive, auf möglichst viele Trys ausgerichtete Spiel der Neuseeländer steht gegen den eher kraftbetonten Stil der Engländer, ihre Tendenz, in ausführlichen Nahkämpfen und Herumschiebereien allmählich Raum zu gewinnen und Fouls zu provozieren. Das ganze Halbfinale der Rugby-WM in Japan steht für diesen Wettbewerb der Spielkulturen. Nach England - Neuseeland trifft am Sonntag Wales, ein klassischer Vertreter des Kraft-Rugbys, auf das Team Südafrikas. Im sonnigen Süden veredelte Athletik trifft auf jene britische Spielweise, die graues Regenwetter und zähe Kämpfe auf morastigen Feldern geprägt haben.

Ganz klar voneinander abzugrenzen sind die unterschiedlichen Spielweisen nicht. Neuseelands Chefcoach Steve Hansen hat schon relativ früh im Turnier festgestellt, dass es eher von Defensivtaktiken geprägt sei, weniger vom Bekenntnis zu mutigen Angriffsstürmen. Südafrika hat erst im Viertelfinale vergangenes Wochenende gegen die erfrischenden Japaner wieder gezeigt, dass es wirbelnde Gegner mit schierer Körperlichkeit zurückdrängt, um dann sein schnelles Flügelspiel zu entfalten. Aber nur bunkern geht eben auch nicht mehr. Gerade die Briten wollen variabler sein, weshalb sie sich Hilfe aus anderen Rugby-Kulturen geholt haben. Der Coach der Waliser, Warren Gatland, ist Neuseeländer. Und der Australier Eddie Jones ist so etwas wie die Symbolfigur für einen neuen englischen Weg. Das Vorrunden-Aus bei der WM 2015 im eigenen Land war das Zeichen, dass es so nicht weitergehen konnte. Englands Rugby Football Union holte deshalb zum ersten Mal einen Ausländer als Chefcoach für sein wichtigstes Team: Eddie Jones eben, der als japanischer Nationaltrainer gerade einen spektakulären Erfolg erzielt hatte, nämlich einen WM-Vorrundensieg über Südafrika. Jones sollte die Japaner eigentlich zu ihrer Heim-WM 2019 führen. Aber Englands RFU kaufte ihn heraus aus dem laufenden Vertrag, und für Jones war es letztlich wohl die spannendere Herausforderung, das stolze Rugby-Gründerland aus der Krise zu holen.

Jones übernahm also und hatte Erfolg. Gerade jetzt, vor dem Neuseeland-Spiel, schwärmen seine Spieler ausführlich darüber, wie ihr Spiel gewonnen habe unter Coach Jones. Viel Lob erhält auch Offensivtrainer Scott Wisemantel, ebenfalls Australier und schon bei der japanischen WM-Kampagne 2015 ein Jones-Assistent. "Scott hat unseren Horizont ein bisschen erweitert", sagt Billy Vunipola, "aber wir haben uns auch nicht entfernt von dem, was wir gemacht haben, seit Eddie da ist, nämlich so hart wie möglich zu spielen."

Aber ob das neue Temperament im englischen Spiel reicht, um die All Blacks zu bezwingen? In den britischen Medien gibt es natürlich Überlegungen zu Lösungen für die scheinbar unmögliche Aufgabe. Der Guardian erinnerte an den 15:13-Erfolg von 2003 in Wellington, als die Engländer immer wieder Verletzungspausen und andere Unterbrechungen erzwangen, so dass sich der Schwung der All Blacks gar nicht erst entfalten konnte. Daran möge man sich ein Beispiel nehmen: "Ein paar Regeln haben sich geändert seither. Andere werden ein bisschen anders angewendet, aber die Grundmaxime ist gleich geblieben: Ein Spiel gewinnt man, indem man dem Gegner seine Stärken nimmt."

Sieg durch Zerstörung, das ist die Idee, und Eddie Jones findet sie offenbar nicht schlecht. "Wir müssen immer daran denken, was wir dem Gegner wegnehmen müssen", sagt er. "Gegen Neuseeland ist das Spiel ohne Ball immer sehr wichtig."

Er spricht vom Tempo der All Blacks, von der Intensität ihrer Offensive, von ihren Überraschungsangriffen. "Sie sind immer im Spiel, sie suchen immer nach Möglichkeiten." Er sagt, seine Spieler seien darauf vorbereitet. Sie sollen die Wellen der All Blacks brechen, bevor diese ihre Kraft so richtig entfalten. Und dann soll sich eine neue englische Brillanz zeigen, die den Sieg erzwingt. Das ist der Traum, an den England glauben will.

© SZ vom 26.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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