Süddeutsche Zeitung

Rugby:Die Sympathiewelle

Das Rugby-WM-Stadion von Kamaishi ist auch ein Mahnmal - vor dem Tsunami 2011 stand dort eine Schule. Und nun: Namibia gegen Kanada. Es sieht so aus, als könne der Sport tatsächlich ein paar Wunden heilen.

Von Thomas Hahn, Kamaishi

Als an jenem 11. März 2011 der Tsunami kam, war Taro Uraki im Auto mit einem Kollegen vom Rathaus. Sie hatten das Megafon. Sie fuhren im Auftrag der Stadt durch die Straßen von Kamaishi und riefen den Menschen zu, sie sollten sich in Sicherheit bringen. Nach dem schweren Erdbeben war keine halbe Stunde vergangen. Die Riesenwelle, die dem Beben folgte, näherte sich unaufhaltsam. Uraki und sein Kollege fuhren auf der Straße Richtung Schutzwall. Da sahen sie, dass die Welle erste Autos über dessen Kuppe spülte. Schnell bogen sie zweimal rechts ab. Sie stellten das Auto nahe dem Rathaus ab und hasteten die Treppe zu einer Anhöhe hinauf. Viele Menschen waren schon dort.

Und dann erlebte Taro Uraki, wie sich das Wasser mit grausamer Kraft durch die Stadt wälzte: "Ich konnte nicht glauben, was ich sah." Die Welle nahm Häuser mit, überspülte Straßen, zerstörte die vertraute Landschaft. Als der Spuk vorbei war und Taro Uraki mit den anderen die Treppe wieder hinunterstieg, war in seiner Heimat nichts mehr, wie es mal war.

Taro Uraki steht vor der Haupttribüne des Kamaishi Unosumai Memorial Stadions, achteinhalb Jahre später. Er trägt ein dunkelblaues Rugby-WM-Hemd und um den Hals eine Marke, die ihn als Mitarbeiter des Organisationskomitees ausweist. Bald kommt die nächste Welle, aber diesmal ist es eine gute: Namibia und Kanada treffen sich am Sonntag zum letzten Vorrundenspiel in Gruppe B, 14 000 Zuschauer werden erwartet, Fernsehen, Journalisten, ein Auflauf, wie ihn die Gegend dort nicht kannte, bevor zu Beginn der WM Uruguay gegen Fidschi im neuen Stadion spielte.

Taro Uraki ist ein leiser Mann von 33 Jahren, schmal, nicht sehr groß gewachsen, aber die Stütze einer kleinen Stadt, die aus der Not eine japanische Comeback-Geschichte gemacht hat. Dass dort, an der schroffen, entlegenen Felsenküste der Präfektur Iwate, jemals eine Weltmeisterschaft stattfinden würde, hätte sich vor dem Tsunami kaum einer vorstellen können. Unmittelbar nach dem Tsunami erst recht nicht. An Japans Ostküste waren fast 20 000 Menschen umgekommen oder unauffindbar weggespült worden, 1145 allein in Kamaishi. Weiter südlich in der Präfektur Fukushima hatte der Tsunami eine dreifache Kernschmelze im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi verursacht. Wer hätte da an Rugby denken können?

Trotzdem war die Idee im Dezember 2011 plötzlich da, gewachsen aus den Plänen zum Wiederaufbau. "Ich setze auf Möglichkeiten", hat Kamaishis Bürgermeister Takenori Noda dazu zuletzt in der Japan Times erklärt. Seit 2009 war klar, dass Japan die Rugby-WM 2019 bekommen würde, und Kamaishi hatte eine Beziehung zu dem Sport, denn neben Stahl und Fisch war Rugby dort lange ein anerkanntes Qualitätsprodukt.

Wer noch in Notunterkünften leben muss, ist vielleicht nicht begeistert vom Rugby-Projekt

Nippon Steel Kamaishi, das Werksteam des örtlichen Stahlunternehmens, war von 1979 bis 1985 Japans Serienmeister. Der Klub überstand dann den Strukturwandel nicht, heute lebt er in der zweiten Liga weiter, mit einem Namen, der kurz nach dem Tsunami etwas unpassend wirkte: Kamaishi Seawaves. Aber die Rugby-Tradition blieb, und Bürgermeister Noda gefiel der Gedanke, das Nach-Tsunami-Kamaishi darauf aufzubauen. Er beschloss: Wir machen das. Wir werden WM-Gastgeberstadt und pflanzen ein Rugby-Stadion als Mahnmal in den Grund am Hafen, genau dort, wo vor dem Tsunami eine Grund- und eine Mittelschule standen.

Ein Stadion als Gedenkstätte. Das ist selten. Das könnten manche vielleicht sogar als falsches Signal kritisieren, weil Stadien keine Orte des Innehaltens sind, sondern Sportkonsumtempel mit Firmennamen, Kathedralen des dumpfen Fangesangs, protzige Bühnen einer lauten Nebensache. Aber im Kamaishi Unosumai Memorial Stadion kann die Andacht ganz gut neben dem Vergnügen bestehen. Denn das Stadion ist klein.

16 000 Menschen fasst es bei der WM, weil die Veranstalter für die tollen Tage Stahlrohrtribünen haben aufbauen lassen. Ohne die Tribünen ist es ein schlichter Sportbau am Waldrand für 6000 Leute. Tribüne mit geschwungenem Dach. Ein Feld zwischen Erdhügeln. Viel Platz drumherum. An einer Mauer schimmert ein buntes Mosaik aus Muscheln der Gegend, das örtliche Schülerinnen und Schüler angefertigt haben, um den Spendern aus aller Welt danke zu sagen für ihre Katastrophenhilfe nach dem Tsunami. "Arigatou", steht in einer Ecke des Kunstwerks. Danke.

Und ein paar Schritte weiter ist der Gedenkstein, den der Kamaishi-Bürger Masaaki Kimura gestiftet hat. Die Worte "Anata mo nigete" sind in den Stein gemeißelt. "Lauf auch du weg." Es ist der Satz, den Masaaki Kimura gerne seiner Frau nachrufen würde, wenn sie das wieder lebendig machen würde. Takako Kimura arbeitete im Sekretariat einer der Schulen, die dort vor dem Tsunami standen. Sie half, dass alle Kinder schnell das Gebäude verließen und zur Anhöhe liefen. Sie selbst blieb zurück. Ihr Körper wurde nie gefunden.

2014 begannen Bürgermeister Noda und seine Leute mit den Arbeiten an der Kandidatur. Als die Begutachter des Verbandes World Rugby kamen, um sich ein Bild zu machen von dem möglichen WM-Schauplatz, sahen sie nicht viel mehr als eine ehemalige Rugby-Hochburg im Wiederaufbau mit schlechter Verkehrsanbindung und einer leeren Fläche zwischen Straße und Wald. Sendai, die gut vernetzte Millionenstadt in der Präfektur Miyagi, ebenfalls vom großen Ostjapan-Erdbeben mit Tsunami betroffen, schien die besseren Chancen zu haben. "Das Anliegen und die Hoffnung waren eigentlich das einzige, was wir vorweisen konnten", sagt Taro Uraki. Im März 2015 schauten die Anhänger der Bewerbung in einem lokalen Hotel gespannt auf einen Bildschirm. Die Pressekonferenz zur Verkündung wurde live übertragen. Sie staunten und jubelten. World Rugby entschied sich tatsächlich für den komplizierteren Bewerber.

Das Projekt war durchaus umstritten. Nicht alle in Kamaishi fanden es sinnvoll, dass fünf Milliarden Yen (42 Millionen Euro) in ein Rugby-Stadion fließen, während manche Einheimische immer noch in Notunterkünften leben mussten.

"Wir haben viele Gespräche geführt", sagt Taro Uraki, "wir haben versprochen, dass der Stadionbau nicht den Wiederaufbau verzögert." Die neuen Schulen am Hang gegenüber standen schon, als im April 2017 die Arbeiten an der neuen Arena begannen. Im Juli 2018 war sie dann fertig. Es gab ein buntes Einweihungsfest, ein Jahr später dann die WM-Generalprobe mit dem Spiel Japan - Fidschi, und schließlich das erste WM-Spiel und internationalen Beifall.

Nein, sagt Taro Uraki, es ist noch nicht alles gut in Kamaishi. Weiterhin leben Menschen in Notunterkünften, weil sie am 11. März 2011 ihr Haus verloren haben. Man kann annehmen, dass sie weiterhin ein gespaltenes Verhältnis zum Stadion haben. Andere Kritiker sind versöhnt, seit sie die Farben gesehen haben, welche die Rugby-Gemeinde in die Stadt brachte. Taro Uraki ist ohnehin der Meinung, dass es gut war, die WM in die geschundene Bucht zu holen. "Wir sind dem Weltverband sehr dankbar", sagt er, ehe Kamaishi am Sonntag mit Namibiern und Kanadiern noch einmal die große Geschichte vom kleinen Stadion feiert.

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Quelle:
SZ vom 12.10.2019
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