Süddeutsche Zeitung

Rudern:Die Antwort kennt nur der Wind

Ruderer Oliver Zeidler zählte zu den sichersten Gold-Tipps dieser Spiele. Nun ist er im Halbfinale gescheitert, vermutlich an den äußeren Bedingungen - und den Zweifeln daran, ob er unter diesen Umständen wirklich der Beste ist.

Von Volker Kreisl, Tokio

Fünfhundert Meter sind eine überschaubare Strecke, drei Viertel der gesamten Regatta liegen schon hinter einem, wenn man die 1500-Meter-Make passiert. Der letzte halbe Kilometer verfliegt in Sekunden, weil die Besatzungen alles geben und die Boote dahinrasen, auch wenn Arme und Beine brennen. Für Oliver Zeidler jedoch dehnte sich dieses letzte Viertel seines Rennens, als wolle sich die Ziellinie vor ihm zurückziehen.

Als er es endlich geschafft hatte, klappte er in seinem schmalen Boot zusammen, legte den Oberkörper auf die Beine und vergrub den Kopf zwischen den Knien. Minutenlang blieb er so liegen, zitterte und verzog das Gesicht beim Versuch, diesen Moment zu begreifen. Er, der Favorit auf Gold, Weltmeister, zweimal Europameister und zuletzt dominierend im Weltcup, der einen fein ausgeklügelten Sieger-Plan verfolgte, war soeben im Halbfinale gescheitert und ins B-Finale gerutscht. In den Lauf der Verlierer also.

Auf dem letzten Abschnitt war ihm der Grieche Stefanos Ntouskos enteilt, dann hatten ihn der Däne Sverri Nielsen und der Russe Alexander Wjasowkin noch überholt, deren Kräfte angesichts Zeidlers Schwäche auf einmal wuchsen und denen die Ziellinie nun entgegenkam. Am Ende war es vielleicht ein knapper Meter, der fehlte, aber das war auch schon egal; Zeidler war derart am Boden zerstört und ratlos, dass er sich schließlich, nachdem er doch noch am Steg angelegt hatte und ausgestiegen war, in den Athletenbereich verzog und erstmal nicht mehr zu sehen war. "Er ist platt", sagte sein Vater und Trainer Heino Zeidler, "er ist wirklich kaputt."

Zeidler ist nicht der einzige Ruderer, der in Tokio unter den windigen Bedingungen leidet

Der beste Verliererstil ist das nicht, aber diese Enttäuschung hatte doch auch eine ungewohnte Dimension, ihr geht eine lange Geschichte voraus: von Außenseitertum, Ehrgeiz und spät genutztem Talent, das fast schon verpflichtend groß ist. Außerdem ist Zeidler ja Einer-Ruderer, das sind die Typen mit einem besonders sturen, eigenen Kopf und eigenen Wegen, oder wie Zeidler mal sagte, "mit einem Selbstvertrauen, das manchmal schon an absolute Selbstüberschätzung grenzt".

Und er hat schon immer Gruppenzwänge abgelehnt, das fing bereits in der Familie an. Von Kind an hörte er Geschichten vom Rudern, denn die halbe Verwandtschaft war schon in verschiedenen Booten gesessen. Großvater Hans-Johann Färber war 1972 Olympiasieger, Vater Heino WM-Vierter, Onkel Matthias zweimal Weltmeister und Tante Judith 1988 Olympiasiegerin im DDR-Achter. Als man Oliver nahelegte, es doch auch mal zu versuchen bei solchen Genen, da sagte er nein und ging lieber zum Schwimmen. Das hat er jahrelang betrieben, erst mit 20 Jahren begann er doch zu rudern und probierte ein Ergometer, eine Art Kellerboot mit Netzanschluss, mit dem man Rennen simulieren kann. Zeidler gewann gleich mal eine Ergometer-WM, es dauerte nicht lange, dann schmiedete er ehrgeizige Pläne für Olympia, natürlich auf Wasser.

Doch auch das beste Konzept garantiert keine Goldmedaille bei Olympia, denn dieser Wettkampf hat immer besondere Umstände. Im Falle von Zeidler, von manchen seiner Teamkollegen und vielen gestrauchelten internationalen Konkurrenten war es der Wind. Der pfiff Mitte der Woche stramm als Schiebewind den Athleten ins Gesicht, wühlte das Wasser auf, ließ sogar ein Boot kentern. Und er war wohl auch ein Grund dafür, dass der ebenfalls favorisierte deutsche Frauen-Vierer kurz vor dem Ziel auf Silber-Kurs doch noch einen Krebs fing. Das ist ein verkantetes Ruderblatt, eine unfreiwillige Notbremse, mit der Tempo und Chancen schlagartig dahin sind.

Vom Ergometer nach Olympia: Manchen fanden den Sprung zu groß

Heino Zeidler, der seinen Sohn von der ersten Ergometer-WM bis heute betreut, sah im Wind auch eine schlüssige Erklärung. Und als Oliver Zeidler dann doch eine Stellungnahme veröffentlichte, bestätigte er die Einschätzung: "Das ist derzeit nicht wirklich mein Wasser und daher bin ich auch daran etwas gescheitert." Manche kommen bei mehr Bewegung in der Luft und im Wasser immer noch ganz gut zurecht, andere reiben sich dabei auf und verlieren Kräfte. Zeidler liebt das Gegenteil, das flache, glatte Wasser, am besten mit leicht schiebendem Wind.

Geht es jetzt also wieder los, wie vor knapp vier Jahren? Da trat Zeidler unvermittelt ins Rudern ein und verdrängte schnell den damaligen auch schon sehr starken Hoffnungsträger Tim Ole Naske. Auch das elitäre Rudern ist eine in gewisser Weise exklusive Gesellschaft, die Athleten sind lange dabei, ehe sie zu Olympia fahren. Deshalb sind nicht alle begeistert, wenn ein Quereinsteiger Ansprüche stellt, der noch kein Fahrgefühl, keine Erfahrung bei Extrembedingungen hat. Vater Zeidler deutete nun an, dass die kurze Karriere auch ein Grund dafür gewesen sein könnte, dass sein Sohn in Tokio scheiterte: "Die Erfahrungen, die ein Ruderer in zehn, 15 oder 20 Jahren sammelt, um bei solchen Bedingungen zu rudern, kann man nicht in der Kürze der Zeit reinholen."

Mit dem Spruch "Ergometer können nicht schwimmen" hatte Zeidler leben müssen - bis er seine Einzeltitel auf Wasser holte. Es ist aber unwahrscheinlich, dass der Argwohn gegenüber dem Einzelgänger unter den Team-Ruderern nun neu aufkommt. Denn seine Titel bleiben bestehen, er ist lernfähig und mit 25 Jahren noch jung genug für mindestens zwei weitere Anläufe auf den Olympiasieg. Dafür muss er aber bald wieder das beherzigen, was ihm von Anfang an schon klar war: "Als Einer-Ruderer musst du selbstbewusst sein und absolut überzeugt davon, dass du der Beste ist."

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