Süddeutsche Zeitung

Rudern:Das Rätsel von Varese

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Der Deutschland-Achter hat bei den vergangenen acht Europameisterschaften gewonnen. Bei der neunten wurde er schwer geschlagen. Nun bleiben nur noch drei Monate bis Olympia, um den Fehler zu finden und zu korrigieren

Von Volker Kreisl, München

Nicht das auch noch, nicht auch noch die Niederlande. Platz drei wäre zwar auch noch eine Niederlage, über die später zu sprechen wäre, aber Dritter hieße immerhin Bronze, und das ist auch eine Medaille. Gold und Silber waren verloren, aber wenigstens ein Podestplatz, das sähe besser aus. Doch es half nichts. Da kam er schon daher, auf der linken Seite, der Bug der Niederländer, und schob sich auch vorbei am Deutschland-Achter, knapp vor der Ziellinie.

Vierter. Für die meisten Athleten ist das ein undankbarer Platz, aber er wird dann doch, nach etwas Nachdenken über die eigene Leistung und Pech, zu einem Erfolg. Für den bei den Europameisterschaften in Varese viertplatzierten Deutschland-Achter jedoch war die Sache eindeutig, und sie wurde auch nicht besser. Dieses Boot hat den Anspruch zu gewinnen. Seine Ruderer sind hochdekoriert, zuletzt achtmal nacheinander Europameister geworden. Im vergangenen Olympiazyklus, also seit 2016, haben sie nur drei Niederlagen erlitten, jedoch nur in Vorläufen, in den Finals waren alle in Top-Form. Und nun dieser Einbruch zur Eröffnung der Olympiasaison. Achter-Trainer Uwe Bender sagte noch am nächsten Tag: "Die Köpfe hängen sehr."

Klar, die einzelnen Ruderdisziplinen sind zwar fast so selbständig wie Läufer, Springer und Werfer in der Leichtathletik, aber bei Meisterschaften profitieren Verlierer schon auch von den Erfolgen der anderen, weil man doch irgendwie eine Besatzung in einem Boot ist. Insofern war es hilfreich, dass der Einer-Ruderer Oliver Zeidler im Finale Europameister wurde und die Konkurrenz zum zweiten Mal scheinbar locker deklassierte. Auch der zweite Platz der Leichtgewichts-Doppelzweier Jason Osborne und Jonathan Rommelmann hatte am frühen Nachmittag die Laune gehoben, ebenso wie der Bronzeplatz des Doppelvierers der Frauen. Doch wer immer zum Schluss fährt, immer zu einem Erfolg, das ist der deutsche Achter.

Und genauso sah es zunächst auch wieder aus. Steuermann Martin Sauer lotste das Langboot wie immer in die richtige Position; dass die Crew wegen eines verlorenen Bahnverteilungsrennens diesmal die Außenbahn befahren musste, wo sie nicht in der Mitte des Geschehens ist, schien nichts auszumachen. Eine halbe Bootslänge führten die Deutschen schon, sie kontrollierten das Feld. Benders Ruderer waren die Schnellsten bis 500 Meter und auch noch die Schnellsten bei der 1000-Meter-Marke. Dann brachen sie ein.

Bis zu zehn Meter waren sie vorne, aber nun schrumpfte der Vorsprung kontinuierlich wie eine lecke Luftmatratze. Dies war vollkommen neu für das Team. Es stemmte sich gegen die nachlassenden Kräfte, aber es half nichts. "Bei tausend Metern waren wir grün und blau", sagte Schlagmann Hannes Ocik. Die Folge: als Erstes zog das Boot aus Großbritannien vorbei, seit Jahrzehnten der Rivale um die Weltspitze. Bald danach passierten die Rumänen mit energischen Zügen die leidenden DRV-Ruderer, und schließlich, in einem letzten freudigen Schub, setzten sich auch noch die Niederländer davor.

Die Deutschen verließen dann die kleine Party, die die EM-Medaillen-Gewinner auf dem Lago di Varese feierten, und gingen schon am Abend zur Verarbeitung über. Bender erzählte, dass die Stimmung natürlich gedrückt war, weil so ein plötzlicher ungewohnter Kraftverlust natürlich schmerzt, weil er aber auch ein schweres Rätsel darstellt. "Wir dachten ja, wir sind gut drauf", sagte Bender. Schon immer sei es normal gewesen, im Training bis zu tausend Meter in vollem Speed zu fahren. Und schon immer habe man damit auch locker die doppelte Distanz im Wettkampf absolviert. Was also ist passiert?

Bender vermutet, dass über den Winter ein Detail im Ausdauertraining zu wenig dosiert, falsch ausgeführt oder vielleicht komplett vernachlässigt worden sei. Möglichst schnell sollten sie dies herausfinden, denn in rund drei Monaten beginnen, vorbehaltlich einer weiterhin möglichen Corona-Absage, die Olympischen Spiele. Und da soll der Achter wieder die gewohnte Beute sichern, nämlich Gold, mindestens Silber.

Ocik, der zuständig ist für den Schlag, also den Rhythmus der Ruderer, hat sich wie alle Gedanken gemacht über die Ursachen dieses Einbruchs auf dem Wasser. Er gibt zu bedenken, dass in den vergangenen 14 Pandemie-Monaten bei der Olympiavorbereitung viele Trainingseinheiten zeitlich versetzt stattfanden oder ganz ausfielen. Vielleicht lag darin die Ausdauerlücke, die sich nach 1000 Metern plötzlich auftat. Eine Rolle mag auch die Tatsache gespielt haben, dass der Achter sich sonst zu Beginn der Saison im April bei internen Rennen misst, aber nie gleich bei einer Europameisterschaft.

Es gibt also Gründe für die EM-Misere und somit wiederum Anlass zu Hoffnung. Bei den drei Niederlagen seit 2016 hatten sie ja die Fehler über Nacht finden müssen, und doch die Titel gewonnen, jetzt bleiben noch drei Monate. Schließlich verdeutlichte sogar diese Niederlage etwas Erfreuliches. "Wir Ruderer", sagt Ocik, "wollen ja beides, nämlich zugleich einsteigen, und wenn es sein muss, dann auch zugleich eingehen." Soll heißen, das Team, das wie in einem Guss agieren sollte, ist bestens eingespielt, wenn alle dieselben Kräfte haben, wenn sie gleichzeitig stark sind und pünktlich zur gleichen Zeit nachlassen. Wenigstens das hat auf dem Lago di Varese bestens geklappt.

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