Thomas Röhler im Interview:"Das ist eine ganz, ganz gefährliche Situation"

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"Speerwerfen zu Hause ist jedenfalls Nonsens" - sagt Thomas Röhler. Da kann man schlecht widersprechen.

(Foto: imago images/Chai v.d. Laage)

Speerwurf-Olympiasieger Thomas Röhler spricht über die Probleme der Sportler, Sonderanträge für die Tartanbahn - und erklärt, warum sein Training gerade dem eines normalen Fitnessbegeisterten ähnelt.

Interview von Johannes Knuth

Thomas Röhler ist einer der erfolgreichsten deutschen Leichtathleten. Der 28-Jährige vom LC Jena wurde von 2012 bis 2016 nationaler Meister, 2016 schaffte er mit dem Olympiasieg in Rio seinen bislang größten Erfolg. Im Jahr darauf stellte Röhler mit 93,90 Metern seine bis heute gültige Bestweite auf; seit Einführung des neuen Speers im Jahr 1986 waren nur Johannes Vetter (Offenburg/94,44) und Weltrekordhalter Jan Zelezny (Tschechien/98,48) besser. 2018 wurde Röhler in Berlin Europameister. Er sitzt seit 2018 als erster Deutscher in der Athletenkommission des Leichtathletik-Weltverbands

SZ: Herr Röhler, kann man sagen, dass Ihnen und Ihren Kollegen gerade die außergewöhnlichsten Wochen ihres (Sportler-)Lebens widerfahren?

Thomas Röhler: Es ist definitiv eine Ausnahmesituation, die ich so in meiner sportlichen Karriere noch nicht erlebt habe. Das wird sicherlich in die Geschichtsbücher eingehen. Wann ist man schon mal für fünf Jahre amtierender Olympiasieger?

Sportleralltage sind in der Regel streng getaktet, fast jede Minute steht im Dienst eines kurz-, mittel- oder langfristigen Ziels. Wie ist das, wenn einem auf einmal sein Sport wegbricht?

Man weiß es ja noch nicht so recht. Es wird gerade viel spekuliert: Könnte man vielleicht im August noch ein paar Meetings über die Bühne bringen? Natürlich braucht man auf dem Weg nach Tokio 2021 ein paar Wettkämpfe, spätestens im kommenden Frühjahr für die Qualifikation. Andererseits muss man sich darauf einstellen, dass dieses Jahr ein reines Trainingsjahr wird. Und das unter Umständen, die wir derzeit jeden Tag neu bewerten müssen.

Sie sind ja für ihre kreativen Trainingsmethoden bekannt, Weitwerfen mit Streichhölzern etwa. Der Paralympics-Speerwerfer Mathias Mester hat vor Kurzem ein Video gepostet, in dem er Pfeile mit Speertechnik auf eine Darts-Scheibe wirft. Wie halten Sie sich derzeit fit?

Ich mache viele Kraft-, Sprungkraft- und Dehnübungen, mit der Kettlebell und Gewichten. Das Training eines Olympiasiegers sieht jetzt halt ein wenig so aus wie das eines normalen Fitnessbegeisterten.

Aber das kann man ja schwer über Monate betreiben ...

Ich habe mit meinem Trainer Sonderanträge gestellt, dass wir Zugang zu einer Tartanfläche erhalten, um die kommenden Wochen zumindest ab und zu den einen oder anderen Speer zu werfen. Da muss man abwarten, inwieweit das klappt. Speerwerfen zu Hause ist jedenfalls Nonsens, selbst mit einem Garten, das ist wirklich gefährlich. Die Herausforderung ist jetzt, verletzungsprophylaktisch zu trainieren. Dass man einen Fitnesslevel hält, der einem ermöglicht, aus dieser, ich nenne es jetzt mal: Lauerstellung irgendwann wieder intensiv ins spezifische Training einzusteigen. Aktuell kann kaum ein Athlet wirklich sportartspezifisch trainieren. Ein Stück weit werden jetzt diejenigen im Vorteil sein, die anpassungsfähig sind. Körperlich und mental.

Es schadet derzeit wohl nicht, wenn man an noch mehr als an Sport interessiert ist.

Darüber habe ich mich zuletzt erst mit meinem Trainer unterhalten. Für diejenigen, die den Tag ohnehin nur mit der Playstation und Sport verbringen, wird es jetzt wirklich hart. Wir haben hier einen relativ großen Garten, da ist im Frühjahr ohnehin viel zu tun. Ich kann auch noch wie gewohnt rausgehen, die Natur genießen, da ändert sich für mich gar nicht so viel. Es ist auch so noch viel los, mit Medienterminen etwa. Man hat auch mehr Zeit für die Familie. Ich kann da nur für mich sprechen, aber ich genieße derzeit sogar fast die Situation, auch mal eingesperrt zu sein und ein bisschen herunterzufahren.

Wird die mentale Herausforderung, je länger sich der Stillstand hinzieht, vielleicht sogar die größere als die körperliche?

Auf jeden Fall, das steht ja schon jetzt im Vordergrund. Da muss jetzt jeder das Positive aus dieser Situation ziehen, trotz der turbulenten Außenwelt, und ich habe zumindest das Gefühl, dass mir das ganz gut gelingt. Ich versuche auch, nicht ständig Nachrichten zu konsumieren. Ansonsten ist man es als Sportler ohnehin gewohnt, digital zu kommunizieren, man ist ja ständig in der Welt verstreut. Das Problem ist eher, dass mein Trainer noch gar keine konkreten Pläne aufstellen kann, weil alles noch in der Schwebe ist: Wann finden die Spiele statt, wird die WM 2021 verschoben, wird es eine EM 2020 geben? Zuletzt habe ich gelesen, dass sie zumindest hoffen, sie doch noch in diesem August auszutragen.

Thomas Bach, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), hat zuletzt sogar explizit nicht ausgeschlossen, dass die Spiele auch im Frühjahr 2021 stattfinden könnten.

Das höre ich jetzt zum ersten Mal. Ich wüsste nicht, wie da in der Leichtathletik die Qualifikation funktionieren kann - vor allem vor dem Hintergrund, dass wir in diesem Jahr womöglich keine Wettkämpfe erleben. Wir bräuchten schon mindestens ein Zweimonatszeitfenster, um auch entsprechend in Form zu kommen.

Sie sind als Olympiasieger finanziell sicher nicht schlecht aufgestellt; die Deutsche Sporthilfe und die Fachverbände haben zuletzt zugesagt, dass sie ihre Förderung in der wettkampffreien Zeit beibehalten werden. Sie sind aber auch sehr lokal verwurzelt, haben ein eigenes Speerwurf-Meeting in Jena aufgebaut - wie erleben Sie da gerade die Auswirkungen?

Die Corona-Krise wird für alle eine riesige Herausforderung. Für die Sportler vor allem mit Blick auf private Sponsoren, da müssen wir viele Gespräche führen, wie sich diese Partnerschaften jetzt nutzen lassen. Für den Leistungssport sind vor allem die Jahrgänge von der zehnten Klasse bis zum Abitur essenziell. Da gehen uns ohnehin immer wieder Talente verloren, bei denen die Familie sagt: "Hey, du musst eines Tages dein Leben finanzieren, und das funktioniert heutzutage leider häufig gar nicht so gut mit dem Sport." Derzeit ist ja selbst unklar, wie das Abitur abläuft, wie man ins Studium reinkommt. Damit sind wiederum viele Entscheidungen rund um den Leistungssport verzahnt.

Viele Vereine, die für diese Nachwuchsarbeit unersetzlich sind, geraten gerade nur selbst in prekäre Situationen ...

Ich sage es mal so: Wenn Kuchenbasar und Kinderwettkämpfe ausfallen, kann der Übungsleiter irgendwann nicht mehr finanziert werden, und dann bricht da nach und nach eine ganze Pyramide weg. Das ist eine ganz, ganz gefährliche Situation. Da müssen jetzt viele an einem Strang ziehen, dass uns bald nicht auf einmal viele Vereine fehlen. Wenn es ganz dumm läuft, sind die Kinder von fünf bis zehn Jahren jetzt ein Jahr lang nicht im Verein betreut. Das kann man in der späteren Entwicklung nur noch schwer aufholen, da gehen uns im Zweifel auch für den Spitzensport ganze Jahrgänge verloren. Da müssen die Vereine jetzt ran, beispielsweise Angebote für zu Hause schaffen. Es braucht sicher auch finanzielle Hilfen von Land und Bund.

Für Sie selbst waren es zuletzt auch sportpolitisch denkwürdige Tage: Viele Olympia-Athleten haben in einer konzertierten Aktion maßgeblich die Verschiebung der Tokio-Spiele herbeigeführt.

Ich fand es bemerkenswert, wie die Athleten weltweit geschlossen reagiert haben - insbesondere auch diejenigen, die von den Corona-Auswirkungen noch gar nicht so betroffen sind. Die haben mir am Telefon erzählt, dass der faire Wettbewerb ja schon deshalb nicht möglich sei, weil sie derzeit gar nicht gegen die Weltbesten antreten können. Das fand ich spannend. Es klingt ein wenig blöd, aber die Athleten haben da wirklich einen Sieg davongetragen, zusammen - das muss man auch betonen - mit den Welt- und Nationalverbänden. Da zeigt sich, dass doch auf uns gehört wird, wenn viele an einem Strang ziehen. Das fand ich wirklich schön.

"Mich interessiert auch, was der 35. der Weltrangliste denkt"

Sie wurden 2017 in die Athletenkommission des Leichtathletik-Weltverbands (WA) gewählt, haben jetzt viele Verhandlungen miterlebt. Man hatte das Gefühl, dass der Austausch von Sebastian Coe, dem WA-Präsidenten, etwas transparenter ablief als der mit dem IOC.

Dem ist definitiv so. Deswegen sage ich auch: Es war ein Sieg der Athleten, aber auch ein Erfolg vieler Verbände. Es war beispielhaft, wie die Australier und Kanadier vorangegangen sind, als sie ihren Komplettverzicht auf die Spiele 2020 verkündet haben. Sebastian Coe hat die Gespräche mit uns Athletenvertretern auch sehr intensiv und federführend betreut. Er hat immer betont, wie wichtig es sei, die Athleten, die gesamte Gemeinschaft und auch den sportlichen Wettbewerb zu schützen. Das fand ich sehr lobenswert.

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Aber die richtige Arbeit beginnt jetzt ja erst. Sie haben selbst mal gesagt, dass man die PS, die Athletenvertreter und Athleten weltweit haben, noch viel besser auf die Straße bringen könnte.

Ich denke, dass alle Akteure aus der jetzigen Situation sehr, sehr viel lernen: Wie kann man eine laute Stimme erheben, ohne dass der Austausch zwischen Verbänden und Sportlern leidet? Es muss ja trotzdem noch ein Miteinander sein. Ich bin sehr gespannt, ob sich die Debatten, die wir jetzt angestoßen haben, so fortsetzen.

Die offene Debatte also, nicht in den Hinterzimmern der Sportverbände?

Die ganze Aktion jetzt lief ja ohne Drehbuch ab. Die Kommunikation des IOC war starr, selbst viele Verbände wussten nicht, wie sie da durchdringen sollen. Da musste man sich offen austauschen, auch medial nach außen treten mit dieser Meinung. Bei anderen Entscheidungen im Weltsport ist der Brei oft schon fertig gerührt, bevor die Meinung der Athleten gehört wird.

Man sieht ja seit einer Weile am Verein Athleten Deutschland, dass unabhängige und auch hauptamtliche Strukturen helfen. Viele Athleten haben gar nicht die Kapazitäten, sich neben ihrem Sport mit komplexer Verbandspolitik zu beschäftigen. Bräuchte man da nicht tatsächlich eine unabhängige, professionell organisierte Athletenvertretung - nicht nur Repräsentanten in den Gremien der Verbände?

Unbedingt. Viele Diskussionen, die wir jetzt geführt haben, fallen eigentlich ja gar nicht in den Aufgabenbereich von Vollzeitsportlern. Es ist offenbar noch immer eine junge Idee für den Weltsport, dass man im Jahr 2020 über derartige Dinge spricht. Aber ich habe auch das Gefühl, vor allem in der Leichtathletik, dass sich einiges tut. Christian Taylor (Dreisprung-Olympiasieger, Anm.) hat vor Kurzem die Athletes Association ins Leben gerufen, die ähnlich unabhängig sein will. Der Weltverband weiß noch nicht ganz, wie er damit umgehen soll, und wenn man ehrlich ist: Viele Athleten wissen es auch noch nicht. Aber ich finde schon, dass das ein Konstrukt ist, was sinnvoll ist und auch akzeptiert wird.

Aber das ist ja spannend: Sie sitzen in der offiziellen Athletenkommission des Verbandes. Dann gibt es da jetzt diese neue Quasi-Gewerkschaft, die unabhängig Einfluss nehmen will - auch, weil sie sich bei Entscheidungen des Weltverbands zuletzt übergangen fühlte, der jüngsten Reform der Diamond League etwa.

Ich sehe unsere Athletenkommission erst mal als gleichgestelltes Organ in dem Konstrukt Weltverband, wo wir alle Anliegen bündeln können. Wenn wir als Athleten eine Meinung geformt haben, können wir die gut ins Präsidium tragen, weil wir viel besser in den Strukturen eingebettet sind. Das heißt aber nicht, dass ein externes gewerkschaftliches Konstrukt wie die Athletes Association nicht wichtig ist. Sie haben zuletzt erst sehr schnell eine Online-Umfrage geschaltet, mit mehr als 2000 Athletinnen und Athleten. Da haben sich mehr als 80 Prozent für eine Verschiebung der Spiele ausgesprochen, so hatten wir sehr schnell ein verlässliches Meinungsbild. Mich interessiert ohnehin auch, was der 35. der Weltrangliste über ein Thema denkt. Das alles können wir als Athletenvertreter im Verband gar nicht einfangen. Wenn wir mit einer externen Vertretung sauber verzahnt sind - und in der Leichtathletik schaffen wir das derzeit -, dann kann das gut funktionieren.

Je mehr Athletenvertreter, desto besser?

Es muss schon strukturiert sein. Wenn das so ist wie in Deutschland, dass es jahrelang ein Kampf ist und der eine sich vom anderen auf den Schlips getreten fühlt - dann ist das eher hinderlich. Da muss man viel miteinander kommunizieren, damit man Respekt und Absprachen wahrt. Wenn zwei Vertretungen unabhängig auf denselben Entscheider einreden, dann schwächen wir uns als Athleten selbst.

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