Süddeutsche Zeitung

Rodel-WM:Nur Einsen im Rodelabitur

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Eigentlich sollte Anna Berreiter in dieser Saison zunächst Erfahrung sammeln - sie selbst ahnte jedoch, dass sie schon weiter ist.

Von Volker Kreisl

Die Doppelbelastung hat sie schon immer geliebt. Schon als Schülerin fand Anna Berreiter es toll, wenn sie zwei große Sachen im Leben hatte, die sie beschäftigten und belasteten, aber auch erfüllten und ablenkten: "In der Früh bin ich in die Schule gegangen", erzählt sie, "und bis mittags war der Sport weit weg." Und am Nachmittag war es umgekehrt. Egal was zuvor im Unterricht gelaufen war, "die Schule war weg, und der Sport war da." An und aus, und aus und an, der Rhythmus hatte ihr gutgetan. Nur jetzt, jetzt bleibt der Sport erstmal da.

Zurzeit ist die 20-Jährige aus Bischofswiesen bei Berchtesgaden weniger die Studentin Berreiter, als die Rodlerin Berreiter, und nun, vor der WM in Sotschi sogar die Weltcupsiegerin Berreiter. Offiziell war sie wie die gesamte deutsche Frauenmannschaft mit der Maßgabe in die Weltcupsaison eingestiegen, erste Erfahrungen zu sammeln. Schließlich waren im Sommer Tatjana Hüfner, Natalie Geisenberger und Dajana Eitberger zurückgetreten oder in die Baby-Pause gegangen, was so nicht geplant war. Der Altersdurchschnitt im Frauen-Team von Bundestrainer Norbert Loch war schlagartig von 29 auf 20 abgesackt und damit mutmaßlich auch der Qualitätspegel im deutschen Frauenrodeln. Wie sollten Berreiter, Julia Taubitz, 23, Cheyenne Rosenthal, 19, und Jessica Tiebel, 21, die die Bahnen der Welt noch gar nicht richtig kannten, mit Cracks wie der Russin Tatjana Iwanowa oder der US-Amerikanerin Summer Britcher mithalten?

Man gebe ihnen alle Zeit, die sie brauchen, sagte Trainer Loch anfangs der Saison, aber wie sich herausstellte, hatten es seine Debütantinnen ziemlich eilig. Tiebel kam gleich in Innsbruck auf Platz drei, Taubitz ist nach fünf Siegen knapp Gesamtzweite hinter Iwanowa. Und den letzten Weltcup vor der WM, die am Freitag in Sotschi in Russland beginnt, gewann in Oberhof Berreiter. Es war ihr erster Sieg in der Bestenklasse, und zugleich eine Art Rodelabitur. Auf der schwierigen Bahn von Oberhof fuhr sie in beiden Läufen Bestzeit und hatte in sämtlichen Fächern eine Eins. Top am Start war sie, immer auf der Ideallinie unterwegs, sie war athletisch fit, und sie bewies Fahrgefühl für Kurven, Beschleunigung und den Rhythmus der Bahn. Anna Berreiter, die so plötzlich in den Weltcup geworfen wurde, hat also schon viel gelernt in den Jahren im Jugend-Weltcup und bei den Junioren, und das liegt wohl auch an ihrer Doppelbelastung. Auch seit dem echten Abi hat sie nun wieder eine zweite Welt, in der sie das Rodeln abschalten kann. Das verhindert, zu sehr über Fehler zu grübeln, und es gibt auch Sicherheit. Viele Top-Sportler lenken sich ab, die einen spielen Gitarre, andere wandern durch die Berge, manche lieben Ballerspiele und zocken GTA, Berreiter lernt Französisch.

An der Universität in Salzburg, eine halbe Autostunde entfernt von der Rodelbahn, hat sie sich vor einem halben Jahr eingeschrieben, sie studiert Sprache, Wirtschaft und Kultur. Die gängigen Athleten-Weiterbildungen, die Sport, Medien und Vermarktung kombinieren, interessieren Berreiter weniger. Sie will lieber herausfinden, was Sprache für Auswirkungen hat auf die Kultur. "Mich interessiert, wie Sprache unser Leben beeinflusst", sagt sie, und weil Französisch zwar nicht gerade die leichteste Sprache ist, aber ihr Klang, ihre Melodie und ihr Rhythmus Berreiter gefallen, hat sie sich dafür entschieden.

Keine Frage, Französisch ist gerade überdeckt vom Sport. Berreiter trainiert mit dem Team seit Anfang der Woche in Sotschi, einer mittelschweren Bahn, auf der die Deutschen vor fünf Jahren bei Olympia mächtig Gold abräumten. Nun aber siegen Loch und die anderen etablierten Rodler nicht mehr wie selbstverständlich, weshalb Trainer Norbert Loch etwas macht, was in der Bahn nie in Frage käme: Er bremst. "Ziel ist es, dass wir in jeder Disziplin eine Medaille gewinnen", erklärte er.

Damit wollen Trainer ihre Athleten meist schützen, und auch bei den noch jungen Rodlerinnen erscheint es objektiv sinnvoll, keine künstlichen Erwartungen zu basteln. Und doch reagiert jeder anders auf die Zurückhaltung. Manche Sportler laufen ohne Druck zu Hochform auf, und andere werden besser, weil sie sich unterschätzt fühlen und den Chefs und dem Publikum zeigen wollen, wo sie wirklich stehen.

Anna Berreiter und ihre Kolleginnen, fanden sich jedenfalls von der Öffentlichkeit nicht ganz richtig eingeschätzt, als sie im November in die Saison starteten. "Wir wussten, dass wir athletisch gut drauf waren", sagt sie, "es hat uns schon ein bisschen gestört, dass alle uns unterschätzt haben." Sie seien gut vorbereitet gewesen, "warum sollten wir so weit weg sein?" Schon bei einem Vorbereitungsrennen in Lillehammer war sie Zweite geworden. Und beim zweiten Weltcup, auf der Hochgeschwindigkeitsbahn in Whistler in Kanada, da gelang auch Berreiter ein früher Hinweis an alle. Da hatte sie Spaß, denn sie ließ es einfach laufen, "ich habe alles, was ich gelernt habe, auf den Punkt gebracht." Und so kam sie als Zweite aufs Podest.

So weit liegen die Disziplinen der Anna Berreiter vielleicht gar nicht auseinander. Jedenfalls sagt sie, dass es ihr auch im Französischen Freude bereite, einfach nur diese Welt zu erkunden, die Sprache zu lernen, zu beherrschen. Und ist Rodeln nicht auch wie eine Sprache? Die Gesetze der Bahnen und ihr Rhythmus könnten die Grammatik sein. Und müssen nicht auch Lenkpunkte, Eisausbau, Anpressdruck, Ideallinie und vieles mehr immer wieder neu gepaukt werden? Durchaus, auch die schweren Dinge müssen richtig sitzen, im Unterbewusstsein, wie die unregelmäßigen Verben und der Subjonctif.

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SZ vom 16.02.2020
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