Robert Lewandowski:Blitzableiter

EURO 2016 - Group C Ukraine vs Poland

Einst gefürchtet: Polens Torjäger Robert Lewandowski agiert bei der EM bisher glücklos.

(Foto: Oliver Weiken/dpa)

Der Stürmer ist noch ohne Tor - er interpretiert seine Rolle in Polens Elf anders als beim FC Bayern.

Von Ulrich Hartmann, Marseille

Nach Marseille zu fahren und die berühmte Bouillabaisse nicht zu probieren, ist für Touristen undenkbar. Das ist ja ungefähr so, als würde der weltbeste Mittelstürmer zur Europameisterschaft fahren, um keine Tore zu schießen. Robert Lewandowski, Stürmer des FC Bayern München und der polnischen Nationalmannschaft, hat bei der EM in Frankreich bislang genauso viele Tore erzielt wie der albanische Torwart, der ukrainische Physiotherapeut oder der Chauffeur des irischen Mannschaftsbusses: zéro, nil, null.

Viereinhalb Stunden hat der 27-Jährige binnen drei Vorrundenspielen bislang auf dem Platz gestanden, aber er hatte wenige Abschlüsse, noch weniger Chancen und noch weniger Treffer. Auch im finalen Gruppenspiel in Marseille hat Lewandowski gegen die Ukraine nicht getroffen. Schon will mancher dem verdienten Polen medial ans Leder, doch der Nationaltrainer Adam Nawalka hat ein emotionales Verteidigungsplädoyer für Lewandowski gehalten und seinen Kapitän auch ohne Treffer zum Herzen der Mannschaft erklärt. Mit sieben Punkten und 2:0 Toren haben sich die Polen als Gruppenzweiter hinter Deutschland fürs Achtelfinale qualifiziert. Mit Lewandowski auf dem Platz haben sie ergo noch keinen Gegentreffer zugelassen. Am Samstagnachmittag treffen sie in Saint-Etienne auf die Schweiz.

Lewandowski gilt im polnischen Team als das, was Zlatan Ibrahimovic bei den Schweden, Cristiano Ronaldo bei den Portugiesen oder Gareth Bale bei den Walisern ist: ein düsenbetriebener Überflieger unter gemütlichen Heißluftballonfahrern - dabei ist das freilich Unsinn. Mit nur einem Fußballer von Weltniveau schafft es keine Mannschaft zur EM oder dort ins Achtelfinale. Polen hat sich in den vergangenen Jahren zu einem hochwertigen Kollektiv gemausert, in dem außer Lewandowski in nahezu allen Mannschaftsteilen Spieler hervorragender Klubs wirken: Kamil Grosicky von Stade Rennes, Arkadiusz Milik von Ajax Amsterdam, Lukas Piszczek von Borussia Dortmund, sein zuletzt an den AC Florenz verliehener Klubkollege Jakub Blaszczykowski, das Riesentalent Bartosz Kapustka von Cracovia Krakau, das ganz gewiss bald bei einem namhaften Verein anheuert, und vor allem der Spielgestalter Grzegorz Krychowiak, der mit dem FC Sevilla die Europa League gewonnen hat und dem Vernehmen nach für 40 Millionen Euro zu Paris St. Germain wechselt.

"Wir haben große Fortschritte in der Organisation unseres Spiels gemacht", sagte der Trainer Nawalka nach dem 1:0-Sieg gegen die Ukraine. Er wollte damit vermutlich den ästhetischen und statistischen Minimalismus seiner Mannschaft zum Selbstzweck stilisieren. Sieben Punkte und 3:0 Tore haben die Deutschen, der Nachbar und Weltmeister. Da wollen sich die Polen mit ihren 2:0 Toren nicht entschuldigen müssen, zumal sie Deutschland ein 0:0 abgerungen haben. Groß ist die Freude im Land. Polen hat sich erstmals überhaupt für die K.-o.-Runde einer Europameisterschaft qualifiziert.

Sein letztes Tor im Nationaltrikot ist nun acht Monate her

Krychowiak und Blaszczykowski sind bislang die Helden der Mannschaft. Blaszczykowski hat gegen die Ukraine das ansehnliche 1:0 erzielt. Krychowiak organisiert im defensiven Mittelfeld das Hin und Her zwischen Abwehr und Angriff. Lewandowski, dem mancher nachsagt, hauptsächlich auf hohem Niveau vollstrecken zu können, leistet in der Offensive viel Laufarbeit, lässt sich immer wieder zurückfallen, um Bälle abzuholen, weicht aber auch auf die Flügel aus, um Gegenspieler fortzulocken und Räume für Mitspieler zu öffnen. "Manchmal ziehe ich zwei, drei Leute mit, damit ein Mitspieler freie Bahn hat", beschreibt er seine Rolle als Blitzableiter der Offensivabteilung und findet sowieso: "Ich bin der Kapitän, für mich ist die Mannschaft das Wichtigste." So empathisch reden Stürmer häufig, wenn sie nicht treffen, dabei schießt Lewandowski natürlich schon ziemlich gern Tore. Die EM ist eine noch größere Bühne als die Champions League, wer wollte da nicht zum Helden avancieren.

"Er arbeitet für die Mannschaft", lobt ihn der Coach Nawalka und nennt Lewandowski "unsere Lokomotive". Aber im nobel ausgekleideten Gesellschaftswagen der ersten Klasse hat im polnischen Zug beim 1:0 gegen Nordirland der Torschütze Milik gesessen, beim 0:0 gegen Deutschland der Innenverteidiger Michal Pazdan und beim 1:0 gegen die Ukraine ausgerechnet Blaszczykowski. Mit ihm verbindet Lewandowski ein unterkühltes, allenfalls professionelles Miteinander. 30 Tore hat Lewandowski in der vergangenen Bundesliga-Saison geschossen und 13 in der EM-Qualifikation für Polen. Sein letztes Tor im Nationaltrikot ist aber acht Monate her. Momentan ist er eher der Kohlenmann, der im polnischen Tender seine bedeutsame, aber unbeachtete Arbeit verrichtet.

"Dass er trifft, ist nur eine Frage der Zeit", sagt Nawalka. Im Achtelfinale wäre sein erstes Turniertor umso wichtiger. "Ich hoffe, er macht sein Tor gegen die Schweiz", sagt sein früherer Dortmunder Klubkollege Lukasz Piszczek. Nawalka wagt aus verständlichen Gründen eine verbindlichere Prognose: "Ich denke, er wird im nächsten Spiel treffen", kündigt er an. Viel mehr Zeit sollte sich Lewandowski nicht lassen.

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