Tour de France:Ein Sturz bringt Geld

Le Tour de France 2017 - Stage Nine

Der Kasache Alexey Lutsenko nach seinem Sturz auf der neunten Etappe.

(Foto: Getty Images)
  • Auf einer Etappe der Tour de France kam es unter widrigen Bedingungen zu schweren Stürzen.
  • Der Vorfall entfacht eine Debatte über die Rolle des kalkulierten Risikos im Profisport.
  • Beobachter hingegen sehen ein gewisses Gefahrenpotenzial als notwendig für die Vermarktung medienabhängiger Disziplinen.

Von Werner Bartens

Braucht man viel Mut oder wenig Hirn? Auch ohne Regen ist es waghalsig, sich auf zweieinhalb Zentimeter dünnen Reifen mit 110 Kilometer pro Stunde von einem Alpenpass ins Tal zu stürzen. Sind die Straßen nass, wie am Sonntag während der Tour de France, wird es lebensgefährlich.

Trotzdem erreichten die Fahrer auf glitschiger Fahrbahn 90 Kilometer pro Stunde. Nicht alle kamen an. Wirbelbruch, Beckenbruch, Schlüsselbeinbruch lauteten die Diagnosen. Zwölf Fahrer mussten allein an diesem Tag aufgeben.

Spitzenleistungen sind faszinierend - egal in welcher Sportart. Doch ist ein Wettbewerb erst reizvoll, wenn das Risiko für Unfälle groß ist? Müssen Rennen immer waghalsiger gewählt, Strecken schwieriger abgesteckt werden? "Wir reden über Brot und Spiele - Menschen haben eine Sehnsucht, neben ihrem tristen Alltag Außergewöhnliches zu erleben", sagt Dieter Frey, Sozialpsychologe an der Ludwig-Maximilians-Universität München. "Da ist Sport, vor allem Wettkampf, genau das richtige, denn das erzeugt Spannung, Überraschungen und Nervenkitzel."

Dem Publikum wird einiges geboten: Skispringer müssen bei Sturm oder Nebel von der Schanze hüpfen. Alpine Abfahrten auf Eis werden eng gesteckt, 80-Meter-Sprünge inklusive. Und ein Grand Prix der Formel 1 gilt als langweilig ohne riskante Überholmanöver und spektakulären Crash. Die Veranstalter von Sport-Events scheinen immer größere Risiken einzukalkulieren - und die Athleten machen mit. "Ohne Risiko keine Spannung", sagt Dieter Frey. "Da gibt es keine Sättigung, der Kitzel muss sich immer weiter steigern."

Es geht um Leben und Tod

Längst dominiert im Sport nicht mehr der Wettbewerb zwischen zwei Gegnern, wie beim Boxen. "Es zählt nicht nur die Logik Mann gegen Mann, sondern der Sport wird inszeniert als Kampf gegen die Strecke, das Material oder eben auch um den spektakulärsten Stunt oder die beste Heldengeschichte", sagt der Soziologe Ulrich Bröckling von der Universität Freiburg. "Es ist das Ziel, die nächste - möglichst noch größere - Schwierigkeit zu überwinden." Es geht um epische Unterschiede, um Leben und Tod, wie beim Stierkampf: totaler Ruhm - oder schwerste Verluste. Die große Fallhöhe verspricht das Gegenteil von Langeweile. Der Kick treibt auch Hobbysportler an oder jene Adrenalinsüchtigen, die sich nur mit Cape oder Mini-Schirm ausgestattet von Hochhäusern oder Felsen stürzen.

Die Sucht nach dem Thrill hat viele Athleten zu ihrem Sport gebracht. So ein Wettkampf wird heute aber auch für Veranstalter, Sponsoren und Zuschauer ausgetragen. Es geht um Macht und Ruhm - und die Vorteile, die eine gute Platzierung, ein wilder Ritt über die Berge und ein überstandener Sturz einbringen: mehr Aufmerksamkeit, bessere Startplätze, mehr Geld.

"Es fehlt der Protest", sagt Dieter Frey. "Der kollektive Kitzel verhindert das. Und am nächsten Tag reden alle über die Karambolage, die Aufmerksamkeit ist gesichert." Nur selten macht ein Sportler den Mund auf, wie Daniel Martin, der Sicherheitsmängel und Kies auf der nassen Straße bei der Tour de France kritisierte: "Es war sehr rutschig, und ich denke, die Veranstalter haben bekommen, was sie wollten." Bei der nächsten Etappe stieg er wieder aufs Rad.

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