Ringen:Eine Schramme im Gesicht

Ringen-WM

Erfolgreich in Kasachstan: Anna Schell überzeugte bei der WM, sie besiegte zum Beispiel die japanische Olympiasiegerin und Weltmeisterin Sara Dosho.

(Foto: Kadir Caliskan / dpa)

Die aus Aschaffenburg stammende Anna Schell hat sich vorzeitig für Olympia qualifiziert - auch Dank des Förderkonzepts der bayerischen Polizei.

Von Lynn Sigel

"Und jetzt machen wir eine Kombination", ruft Matthias Fornoff. Stirn an Stirn umkreisen sich Anna Schell und ihr Partner Adrian Barnowski, die Hände packen den Nacken des jeweils anderen. Plötzlich schnappt sie sich sein Bein, packt Barnowskis Oberkörper und rollt den 17-Jährigen über ihren Körper ab - Schultersieg. Beide lachen, Schell wischt sich die Haare aus dem Gesicht, zieht ihren Trainingspartner hoch und sofort geht es zurück in die Kampfhaltung. Jetzt ist Barnowski dran.

Eine etwa zwei Euro große, hellrote Fläche leuchtet an Schells linker Schläfe, Übrigbleibsel von ihrem Bronzekampf bei der WM im September. Es könne schon vorkommen, dass man sich die Haut aufreibt am Kopf der Gegnerin, sagt sie und grinst. Im Urlaub sei halt alles braun geworden, nur nicht die aufgeschürfte Stelle im Gesicht. Den Urlaub hatte sich die 26 Jahre alte Ringerin redlich verdient nach der erfolgreichsten Saison ihrer Karriere. Im April war Schell in der 72-Kilo-Klasse Zweite geworden bei den Europameisterschaften, fünf Monate später wurde sie in der 68-Kilo-Kategorie Dritte bei den Weltmeisterschaften in der kasachischen Stadt Nur Sultan - und qualifizierte sich damit direkt für Olympia, als fünfte deutsche Ringerin. Die Vorstellung, die Schell bei der WM zeigte, war beeindruckend. In der Vorrunde besiegte sie die Olympia-Zweite, im Kampf um Bronze setzte sie sich gegen die Olympiasiegerin und Weltmeisterin Sara Dosho aus Japan durch. "So wie es die Anna gemacht hat, ist es natürlich ideal", sagt der Landestrainer Matthias Fornoff. Jetzt habe seine Athletin ein ganze Jahr Zeit, um sich ungestört auf die olympischen Wettkämpfe in Tokio vorzubereiten.

Zwei- bis dreimal am Tag trainiert sie, sechs Tage in der Woche. Mindestens eine Einheit am Tag findet dabei auf der Matte mit Partner statt, dazu kommen Krafttraining und Kardioeinheiten auf dem Rad. Wieder und immer wieder werden Techniken wiederholt und kombiniert, auch jetzt schon, im Aufbautraining fürs kommende Jahr. Beinangriffe außen, Beinangriffe innen, Armklammern, dazwischen Trainingskämpfe. Je näher man dem Saisonhöhepunkt kommt, umso kleiner werden die Umfänge, aber intensiver die Einheiten - und umso härter dann das Training, erklärt Fornoff. Schell lacht. Ja sicher werde es dann härter, sagt sie: "Wie im Wettkampf halt."

Auf die Frage, wie sie sich ihre erfolgreiche Saison und den enormen Leistungsschub erklärt, hat Schell gleich eine Antwort: "Im März bin ich zum SC Unterföhring gewechselt und vollends von Aschaffenburg nach Dachau aufs Ausbildungsgelände der Bereitschaftspolizei gezogen." Dort macht sie seit 2016 eine Ausbildung zur Polizeivollzugsbeamtin im Programm der bayerischen Spitzensportförderung. Auf dem Gelände der Bereitschaftspolizei befinden sich eine Trainingshalle mit Kraftraum, eine Kantine sowie Zimmer für die Sportler. "Die Bedingungen hier sind für mich super. Meine Mittagseinheiten kann ich in der Halle machen", erzählt sie. Barnowski, aktueller deutscher Meister in der 60-Kilo-Gewichtsklasse und einer ihrer häufigsten Trainingspartner, wohnt ebenfalls auf dem Gelände.

Das ist ideal für Anna Schell. Denn wer wie sie zu den Weltklasse-Athletinnen gehört, ringt hauptsächlich gegen Männer. Ebenbürtige Trainingspartnerinnen gibt es nur wenige und diejenigen, die es gibt, sind über ganz Deutschland verteilt. Zwar gehört Ringen zu den fünf Grundsportarten der Olympischen Spiele, aber Frauen dürfen erst seit 2004 mitmachen. Einen Ligabetrieb wie bei den Männern gibt es in Deutschland nicht. "Das ist gut", meint Landestrainer Fornoff: Er hält den Ligabetrieb für eine Parallelstruktur, der viele Athleten daran hindere, sich auf internationale Wettkämpfe zu konzentrieren. Momentan gibt es zwar Bestrebungen der Verbände Bayerns, Nordrhein-Westfalens und Brandenburgs, zwei bis drei Frauen- Gewichtsklassen mit in die Liga einzubauen, aber "die stecken noch in den Kinderschuhen", so Fornoff. So fährt Schell wöchentlich nach Bayreuth und Nürnberg, um dort mit weiteren Trainingspartnern zu üben. "Im Kampf werden die Unterschiede zwischen den Geschlechtern deutlich", sagt Anna Schell: "Die Jungs sind schneller, das merkt man schon." Für die Frauen-Nationalmannschaft werden monatlich Trainingslager organisiert, mal in Freiburg, mal in Frankfurt/Oder; das bringe schon einiges, "weil wir dann auch mal gegen Mädels kämpfen".

Seit dem Beginn der Ausbildung kann sich Schell zu 100 Prozent auf den Sport konzentrieren. Das war nicht immer so. Drei Jahre arbeitete sie Vollzeit in ihrem erlernten Beruf als Kauffrau für Bürokommunikation, ein Kraftakt neben dem Training. "In der vorgezogenen Mittagspause habe ich trainiert, mein Urlaub ging für Wettkämpfe und Trainingslager drauf", sagt Schell. Seit sie im dualen Ausbildungssystem der bayerischen Polizei steht, kann sie sich ganz dem Ringen widmen. Vier Monate Präsenzzeit im Herbst, in denen die theoretischen Inhalte vermittelt werden, wechseln sich ab mit acht Monaten Freistellung, um den Leistungssport uneingeschränkt ausüben zu können. Außerdem sichert die Polizei den Athleten die Übernahme zu, auch wenn sie ihren Kaderstatus verlieren sollten.

Davon ist Anna Schell momentan weit entfernt. Ihr großes Ziel, eine Olympia-Teilnahme, hat sie ja gerade erst erreicht. 2016 scheiterte sie noch bei einem Qualifikationsturnier, dann kam ein Kreuzbandriss, der sie lange von der Matte fernhielt. Doch der Wille zurückzukommen war groß. Sie passte ihre Ernährung an und startete fortan statt in der Gewichtsklasse bis 76 Kilogramm in der niedrigeren 68-Kilo-Kategorie, die in Tokio auch olympisch sein wird. Dadurch sei ein weiterer Kampf hinzugekommen, das "Gewichtmachen" vor dem Wiegen. Vier Wochen vor dem Wettkampf beginnt Schell mit der Ernährungsumstellung, gleichzeitig kommt explosives Krafttraining hinzu.

"Da geht das Gewicht dann schon gut runter", sagt sie: "Um die letzten zwei, drei Kilo zu machen, verzichte ich dann aufs Essen und auch aufs Trinken." Die Schinderei zahlt sich aus. Von einem höheren Normalgewicht kommend, kann sie in der niedereren Gewichtsklasse mehr von ihrer Kraft profitieren.

Im Januar erfolgt die Aufnahme in den Olympia-Kader des DOSB, mit der auch eine höhere finanzielle Unterstützung einhergeht. Seit sie die Olympia-Teilnahme sicher hat, habe man Anna Schell von der Ausbildung freigestellt, um ihr die optimale Vorbereitung möglich zu machen, sagt Spitzensport-Seminarleiter Armin Nebel. Denn in Dachau ist man "stolz auf die Anna, richtig stolz".

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