Riesenslalom:Die Hochseilartistin

Sofia Goggia ist eine Skirennfahrerin der Extreme - und gewinnt mittlerweile auch trotz Stockverlust.

Von Johannes Knuth, St. Moritz/München

Sofia Goggia machte das Beste aus ihrem Malheur. Sie winkte mit der linken Hand ins Publikum im Zielraum von St. Moritz, verschränkte die Hand hinter ihrem Rücken, verbeugte sich wie nach einer gelungenen Opernvorstellung. Sie hatte die Hand ja frei, der Skistock, der für gewöhnlich daran baumelt, war ihr während des Super-G zuvor abhandengekommen. Goggia hatte ihn abgeschüttelt, nachdem sie gemerkt hatte, dass der Stock sich bei ihrem Ritt allmählich und unwiederbringlich von der Hand löste. Und das war gar nicht so ohne: Skirennfahrer tragen Stöcke nicht zur Zierde, sondern auch, um die Balance zu halten. Aber Goggia beteuerte später, dass ihr das überhaupt nichts ausgemacht habe. Es sei ja nicht mehr weit gewesen bis ins Ziel.

Und wer aus dem Wilden sein Lebenselixier schöpft - lässt sich der von einem verloren gegangenen Arbeitsgerät schrecken?

In der Ergebnisliste schlug sich der Patzer nicht nieder. Die 27 Jahre alte Italienerin beendete den Wettstreit als Erste, eine Hundertstelsekunde vor ihrer Teamkollegin Federica Brignone - Viktoria Rebensburg, die Siegerin von Lake Louise, wurde nach einem fehlerbehafteten Mittelteil diesmal Neunte. Goggia war im vergangenen Winter noch eine Teilzeit-Skirennfahrerin gewesen, in der Vorbereitung hatte sie einen Bruch des Sprunggelenks erlitten, was ihr eine Weile zu schaffen machte. Nun ist sie zu Beginn der neuen Saison wieder mittendrin in der Spitze, als einer der größten Hingucker des Alpinsports. Wenn man sie in St. Moritz auch nur aus der Ferne beobachtete, spürte man, warum der Weltcup sie so sehr vermisst hatte.

Sie sei ein "Chaot" hat Sofia Goggia aus Bergamo einmal gesagt, gesegnet mit dem Temperament eines Vulkans, und es gab eine Zeit, da fuhr sie auch so. Sie litt allein dreimal unter schweren Knieverletzungen, fand selten Einlass auf die vorderen Ränge. Bis sie beschloss, dass es mit den Krankmeldungen auch mal gut sei. Seit drei Jahren brilliert sie vor allem in den größten Mutproben ihres Sports, der Abfahrt und dem Super-G, wobei sie auch im Riesenslalom für starke Platzierungen zu haben ist. "Früher habe ich es übertrieben, jetzt wandele ich an der Grenze", sagte sie vor zwei Jahren in Pyeongchang. Da war sie gerade Abfahrts-Olympiasiegerin geworden, als erste Italienerin überhaupt.

Aber die Erfolge sind nur das eine, das Abfahrtsgold, Silber im Super-G zuletzt bei der WM in Are, sieben Erfolge im Weltcup. Goggia stellt auch offen das aus, was viele Kolleginnen lieber für sich behalten - sie erinnert da durchaus an Lindsey Vonn, die mittlerweile abgetretene Hochgeschwindigkeitskönigin aus den USA. Goggia, die Tochter einer Literaturdozentin und eines Künstlers, redet so offen über ihre Lieblingspoeten (Giacomo Leopardi und Constantine P. Cavafy) wie über ihren Egoismus, der das italienische Team schon mal aufwirbelt. Der NZZ sagte sie zuletzt: "Als Topathletin bist du wie eine Sonne, alle kreisen wie Planeten um dich, sie helfen dir, aber du musst das Zentrum sein." Ihre Teamkolleginnen scheinen von Goggias Präsenz aber auch zu profitieren, Marta Bassino gewann in Killington zuletzt den Riesenslalom, Brignone wurde Zweite. Im Gesamtweltcup werden sie alle wohl wenig ausrichten können gegen Mikaela Shiffrin, die Amerikanerin, die im Super-G in St. Moritz Dritte wurde und im Riesenslalom am Dienstag in Courchevel schon wieder favorisiert ist. Aber wo Shiffrin mit piekfeiner Technik und Konstanz brilliert, versprühen Goggias Auftritte einen anderen Reiz.

Goggia erinnert oft an eine Hochseilartistin, die am Rande eines Vulkans tänzelt, abzustürzen droht - und sich doch noch fängt. Sie redete in St. Moritz auch über einen Autounfall im vergangenen April, als sie einen Hang hinunterstürzte - und auf einem geparkten Wagen landete. Für diesen Crash, den sie unverletzt überstand, sei sie mittlerweile fast berühmter als für ihren Olympiasieg, witzelte Goggia. Wenn sie so weitermacht wie bislang in ihrem Sportlerleben, dürfte sich das bald wieder ändern.

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