Rhythmische Sportgymnastik:0,6 Punkte fehlen

Gymnastik WM

Die deutschen Turnerinnen Khmelnytska, Sajfutdinowa, Takaltschewitsch, Tokmak und Potapowa (v.l.) bei ihrer Übung mit Band.

(Foto: Bernd Weißbrod/dpa)

Die deutschen Gymnastinnen verpassen bei der Heim-WM Olympia-Qualifikation. Eine Gelegenheit, nach Rio zu kommen, bietet sich aber noch.

Von Volker Kreisl, Stuttgart

Die allerletzte Übung hatte auch einen gewissen Schwierigkeitsgrad. Die fünf Gymnastinnen des Deutschen Turnerbunds waren gerade fertig mit ihrem letzten Auftritt, aber dann ging es schon gleich ab in die Mixed Zone. Ein Wettkampf voller Höhen und Tiefen war gerade mit einem herben Rückschlag zu Ende gegangen, und so wurde aus ganz viel Beweglichkeit und Akrobatik für ein paar Minuten Stillstand. Die Gruppe stand vor der Presse, die Blicke standen, die Sätze standen, und später flossen Tränen. Die Teamkapitänin Rana Tokmak sagte: "Wir sind eine Gruppe, wir halten zusammen."

Die Gymnastinnen des DTB wollen zu den Olympischen Spiele nach Rio de Janeiro, das ist das Leitmotiv fast aller Sportler zurzeit, und diese Weltmeisterschaft der Rhythmischen Sportgymnastik in Stuttgart, 20 Kilometer von ihrem Stützpunkt in Schmiden entfernt, sie war die große Chance. Zwar bleibt den Deutschen noch die Möglichkeit, sich im Frühsommer 2016 in einem Extra-Turnier zu qualifizieren, und doch waren alle Hoffnungen schon auf diesen Samstag in Stuttgart ausgerichtet. Am Ende fehlten 0,6 Punkte, und die formale Erklärung für den Fehlschlag ist genauso kompliziert wie dieser Sport. Die deutsche Gruppe hätte mindestens Zehnter werden müssen. Dann landete sie auch auf Platz zehn, und zwar punktgleich mit Usbekistan, aber den Olympiaplatz bekamen die beiden trotzdem nicht - den bekam die Gruppe der USA. Es müssen nämlich mindestens drei Kontinente unter den Direktqualifizierten sein. Unter den Top-Ten dieser WM waren aber nur Europäer und Asiaten, allen voran Sieger Russland vor Bulgarien und Spanien.

Dreimal ging das Band verloren. Aber eine Chance, nach Rio zu kommen, gibt es noch

Über derartiges formales Pech weinen die Gymnastinnen aber eher nicht, das ist allgemeines Qualifikationsrisiko. Qualifikationsdrama ist dagegen das eigene Missgeschick, das ihnen im zweiten Wettkampfteil passiert ist. Nach einer nahezu perfekten ersten Übung mit zwei Reifen und drei Keulen und einer entsprechenden Hochstimmung beim Verlassen der Matte wurden Tokmak, Daniela Potapova, Darja Sajfutdidova, Anastasia Khmelnytska und Julia Stavickaja in Teil zwei jäh aus ihren Träumen gerissen. Mit dem Band passierte das, was einem Sturz im Turnen gleichkommt: Ein Gerätverlust, und zwar gleich dreimal. Damit wird das gesamte jeweilige Akrobatik-Element gestrichen, der Schwierigkeitswert der Übung sinkt drastisch.

Begonnen hatten sie noch sehr ordentlich mit einem technisch schwierigen Element, und auch die folgenden Zuwürfe funktionierten. Die Stäbe mit ihren sechs Meter langen Bändern landeten sicher in den Händen der jeweils rotierenden, springenden oder sich überschlagenden Kolleginnen. Der Bruch kam nach zirka 30 Sekunden: ein Abwurf im falschen Winkel, und eine Landung des Bandes außerhalb der Choreographie auf der Matte. Es folgte der übliche Versuch, das Ganze sofort zu vergessen und einfach weiter zu machen. Aber dann stießen noch zwei Bänder in der Luft zusammen und schließlich lag auch ein drittes Mal ein Band auf dem Boden. "Du versuchst natürlich, sofort weiter zu machen, als wäre nichts passiert", sagte Daniela Potapova, "aber es ist nicht ganz gelungen."

Derzeit sind die Deutschen die Besten vom Rest der Welt

Die Enttäuschung dürften sie dennoch schnell vergessen, denn Olympia ist weiterhin gut erreichbar. Die Konkurrenz beim Test-Event in Rio, bei dem der Rest des Olympiafeldes ausgefochten wird, ist nicht gerade übermächtig: Die Deutschen haben in Stuttgart bewiesen, dass sie die Besten in diesem Rest sind. Dennoch bleibt der Gruppe und auch den Einzelturnerinnen Jana Berezko-Marggrander und Laura Jung, die es ebenfalls zum Test-Event geschafft haben, für die nächsten Monate viel Arbeit. "Wie wir heute gesehen haben, müssen wir an unserer Stabilität arbeiten", sagte Teamchefin Katja Kleinveldt.

Schon seit längerem haben die RSG-Planer allerdings ein Sonder-Rio-Programm über den Winter erstellt. Die Gruppe, die 2014 durch die Unruhe nach den Misshandlungsvorwürfen und den Trainerwechseln immer wieder neu zusammengestellt worden war, muss noch weiter zusammenwachsen. Die Athletinnen sollen zwischen täglich sechs bis acht Stunden Training auch sinnvoll regenerieren. Und weil niemand bei Mathe oder Englisch sinnvoll regenerieren kann, sind die Gymnastinnen auf ihrem Weg nach Rio nun weitgehend von der Schule befreit.

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