Die Kameraleute waren erbarmungslos, sofort schwenkten sie herüber zum Dortmunder Trainer Peter Bosz, der komplett fassungslos auf den Platz stierte. 4:0 hatte seine Mannschaft im Revierderby gegen Schalke geführt, und es tatsächlich geschafft, in der vierten Minute der Nachspielzeit das 4:4 zu kassieren. Zumindest das 4:5 blieb Bosz zwar erspart, doch als der Schlusspfiff ertönte, jubelten die Gelsenkirchner lauthals. Die Dortmunder Fans pfiffen.
Es war eine Partie, die für Bosz nach dem ersehnten Befreiungsschlag aussah und im Desaster endete. 4:4 nach 4:0, das hatte es in der Geschichte dieses Derbys noch nicht gegeben. Eine Niederlage hätte Bosz in Dortmund wohl sicher den Job gekostet, nun war es ein Unentschieden, dass sich wie eine Niederlage anfühlen musste. Ob das Bekenntnis von Sportdirektor Michael Zorc ("gibt kein Ultimatum") nach diesem Spielverlauf noch gilt?
Bosz lässt stürmen, und wie
Peter Bosz wirkte nach dem Abpfiff entsprechend geknickt. "Das ist schwer. Man fühlt im Körper nur Enttäuschung", sagte er, "das darf nicht passieren. Wenn man 4:0 führt, Aubameyang das fünfte Tor machen muss, darf das niemals passieren, auch nicht mit der Roten Karte, die wir bekommen haben".
Bosz gedachte erneut nicht daran, sich taktisch zu verbiegen. Er wich auch gegen Schalke keinen Deut von seiner offensiven Ausrichtung ab, die dem BVB in den vergangenen Wochen nur selten gut getan hatte. In der Bundesliga war der BVB abgestürzt, auch in der Champions League wurde das Team taktisch ein ums andere Mal auseinanderdividiert. Nein, Bosz massierte nicht etwa das Zentrum oder die Defensive, bot hinten sogar nur eine Dreierkette auf.
Der Niederländer ließ stürmen, und wie.
Die Schalker wussten anfangs gar nicht, wie ihnen geschah. Von der neuen Stabilität des Teams von Domenico Tedesco war jedenfalls nicht viel zu sehen. Zwölf Minuten lang verschonte der BVB den alten Rivalen, dann musste Schalke leiden. Die Knappen wurden zerlegt, in einer Weise, wie es im ruhmreichsten deutschen Derby selten einer Mannschaft passiert war. Eine knappe Viertelstunde später, in der 25. Minute, stand es 4:0. Ja, vier zu null! Tatsächlich für Dortmund.
Der Führungstreffer war noch fragwürdig, da Pierre-Emerick Aubameyang die Hereingabe von Nuri Sahin, an die auch Schalke-Torwart Ralf Fährmann eine Pranke brachte, letztlich mit der Hand über die Linie drückte (12.). Dies wurde jedoch weder von Schiedsrichter Deniz Aytekin, noch von den Videoassistenten im Kölner Studio geahndet, da Aubameyang kaum eine Chance hatte, die Hand noch wegzuziehen. Ein reguläres Tor, bestätigte auch Ex-Schiedsrichter Markus Merk bei Sky.
Doch Schalke war benommen. Und Verteidiger Benjamin Stabouli wird sich noch einige Zeit fragen, was er in der 18. Minute bewirken wollte. Er sprang unbedrängt in eine Sahin-Hereingabe, doch anstatt den Ball zu klären, beförderte er ihn per Kung-Fu-Kick ins eigene Netz. Kurz darauf war Stambouli wieder indisponiert, konnte Aubameyang bei dessen Flankenlauf nicht folgen: In der Mitte köpfte Mario Götze zum 3:0 ein (20.). Damit nicht genug: Rafael Guerreiro nahm einen abgeblockten Ball fünf Minuten später volley und ließ ihn aus der linken Strafraumhälfte ins Netz zischen (25.). Das vierte Tor, Dortmund tanzte. War das schon der Sieg?
Schalkes Trainer Tedesco entschied sich zu einer drastischen Maßnahme, wechselte schon nach einer halben Stunde doppelt: Weston McKennie und Franco di Santo raus, Leon Goretzka und Amine Harit rein. Zur zweiten Halbzeit brachte er auch noch Matija Nastasic, um Thilo Kehrer vor dem Platzverweis zu bewahren. Und tatsächlich trat Schalke in der zweiten Halbzeit völlig verändert auf: Erst vergab Aubameyang aus reiner Schludrigkeit das mögliche fünfte Dortmunder Tor, dann wurde ein vermeintlicher Kopfballtreffer von Naldo wegen Abseits aberkannt. Dafür stellten Guido Burgstaller (62.) und Amine Harit (65.) binnen drei Minuten auf 2:4. Ja doch, Schalke war wieder da.
Und die Dortmunder Nerven begannen zu fliegen. Alte Fehler ploppten auf, die in der ersten Halbzeit noch wie abgestellt gewirkt hatten. Das Stellungsspiel passte nicht, die Spieler agierten mit den Füßen, aber auch im Kopf zu langsam. In der 72. Minute sah Aubameyang auch noch Gelb-Rot. Jetzt stand die Partie endgültig auf der berüchtigten Kippe. Der starke Goretzka trieb die Schalker Mannschaft an, Daniel Caligiuri traf per Schlenzer zum 3:4 (86.). Kurz darauf hielt der vierte Offizielle die Leuchttafel hoch: sieben Minuten Nachspielzeit!
Nun war allen klar, was passieren würde. Die Dortmunder wirkten völlig indisponiert, und als Naldo zum Kopfball hoch stieg, wurde er nicht einmal mehr attackiert: 4:4, in der vierten Minute der Nachspielzeit. Nach dem Schlusspfiff lieferte sich Schalkes Torwart Fährmann ein Scharmützel mit den BVB-Fans, Peter Bosz stand am Spielfeldrand und rang mit der Fassung. "Schalke hat Charakter, Schalke hat Mentalität, und Schalke kann Spektakel bieten", freute sich hingegen Tedesco.
In der Bundesliga dürfte es das Spiel des Jahres gewesen sein - und vielleicht war es das letzte für Peter Bosz beim BVB.