Süddeutsche Zeitung

Ärger von BVB-Profi Marco Reus:Der Reizdarm unter den Fußball-Diagnosen

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Borussia Dortmund muss eine schiefe Debatte ertragen: Denn alle Formen des Scheiterns lassen sich mit Mentalität erklären.

Kommentar von Philipp Selldorf

In den folgenden Passagen kommen die unschönen Worte "Scheiße" und "Kacke" sowie der zweideutige Begriff "Eier" vor, das lässt sich leider nicht vermeiden. Anlass ist das Fernsehgespräch am Sonntagabend, das Marco Reus unmittelbar nach dem Spiel zwischen Eintracht Frankfurt und Borussia Dortmund mit einem Sky-Reporter führte. Dieser wollte von Reus wissen, ob Dortmunds knapp verpasster Sieg und der späte Ausgleich für Eintracht Frankfurt - durch ein Eigentor in der 89. Minute - mit "fehlender Mentalität" zu erklären wären, woraufhin Reus sofort erwiderte: "Das geht mir so auf die Eier mit eurer Mentalitätsscheiße ..."

Im Folgenden wies er dann mit weiteren deutlichen Worten ("jede Woche dieselbe Kacke") einen Zusammenhang von Mentalitätsmängeln und Eigentor zurück und verabschiedete sich mit einer Forderung, die er nicht nur an den Fernseh-Reporter richtete: "Kommt mir nicht mit Mentalität, bitte. Jetzt ist langsam mal gut. Okay?"

Okay. Allerdings wird es vielen Teilnehmern am Fußballdiskurs schwerfallen, auf das Analysemuster "Mentalität" zu verzichten. Denn dieses ist ein immer taugliches Hilfsmittel, um genaue Kenntnis über etwas vorzutäuschen, das sich aus Gründen der Komplexität der objektiven Beweisführung entzieht. Alle möglichen Formen des Misslingens in einem Fußballspiel lassen sich auf befriedigende Weise mit angeblich ungenügender Mentalität erklären. Es handelt sich da um eine universelle Diagnose ähnlich wie der "Reizdarm", mit dem der Arzt die ihm unbekannten Gründe für Bauchschmerzen und Darmdefekte fachkundig zu benennen weiß. Hierzu berichtet übrigens die vertrauenswürdige Apotheken-Umschau: "Das Reizdarm-Syndrom ist eine Krankheit mit vielen Gesichtern. Möglicherweise gibt es nicht DEN Reizdarm, sondern viele. Vermutlich spielen viele Faktoren eine Rolle."

Die Existenz des Faktors Mentalität im Fußball lässt sich dank Jürgen Klopp nachweisen

Während beim Reizdarm so viele Gesichter Verwirrung stiften, lässt sich im Fußball durch ein einziges Gesicht die Existenz des Faktors Mentalität nachweisen: Es ist das nicht selten zähnefletschende Gesicht von Jürgen Klopp. Eine Mannschaft, die von ihm trainiert wird, wie im Augenblick der FC Liverpool, besitzt und verkörpert Mentalität, das ist unbestreitbar. Wie Doktor Frankenstein ist der langjährige Mainz- und Dortmund-Antreiber Klopp obendrein imstande, zum Nutzen seiner Teams übermenschliche Lebewesen zu erschaffen, die er zärtlich "Mentalitätsmonster" nennt.

Marco Reus hat schon viele Komplimente bekommen, "Mentalitätsmonster" war nicht darunter. Von der dem BVB angehängten Debatte ist er gleich doppelt betroffen: als Solokünstler, weil ihm ständig nachgesagt wird, er bleibe mangels der erforderlichen kriegerischen Haltung immer wieder unter seinen Möglichkeiten. Und als Angehöriger der Dortmunder Borussia, deren Anhänger sich ab und zu ihren alten Doktor Frankenstein zurückwünschen, damit er die Borussen und am besten auch gleich den stillen Nachfolger Favre unter Strom setzt.

Ob das Remis in Frankfurt nun tatsächlich etwas damit zu tun hatte, dass den Dortmundern der unbedingte Siegeswille und das Höchstmaß an Resistenz fehlten, das kann kein Mensch mit Gewissheit sagen. Aber als Marco Reus im Fernseh-Interview laut und deutlich aufbegehrte, da hat er Mentalität gezeigt.

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Quelle:
SZ vom 24.09.2019
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