Reportage:Die Insel ist rund

Der Wind weht Sand aufs Grün, und Gegner kommen auch selten vorbei. Der Platz auf Helgoland beweist: Der Fußball reicht überallhin.

Von Thomas Hahn

Oke Zastrow kann von sich behaupten, dass er das Inselleben aushält. Vor bald 18 Jahren ist er aus Friedrichstadt nach Helgoland gekommen, "der Liebe wegen", wie er sagt, und er hat es nicht bereut. Er weiß schon, es gibt Leute, die sich hier wie eingesperrt fühlen zwischen Mauern aus Nichts. Man kommt nicht beliebig weg, schon gar nicht im Winter, wenn Stürme regelmäßig den Schiffsverkehr lahmlegen. Fast alles ist klein hier, die Gassen, die Häuser, das Kino. Und wer von den Klippen hineinschaut in diese riesige Ferne, in der Wasser und Himmel zu verschwimmen scheinen, kann sich fühlen wie ausgesetzt auf einem einsamen Felsen, den irgendjemand mitten ins Meer geworfen hat.

"Die Kleinheit ist das Besondere", sagt Zastrow. Er findet sie nicht bedrängend, schon gar nicht aus der Perspektive des Fußballers. Denn der Platz im Nordostland hat Maße wie andere Fußballfelder auch. 90 Meter lang. 60 Meter breit. "Für eine Mannschaft reicht das."

Der Fußball in Deutschland ist groß. So groß, dass er überall hinreicht. Auch nach Helgoland, das man im geografischen Koordinatensystem unter 54 Grad 11 Minuten nördliche Breite und 7 Grad 53 Minuten östliche Länge findet. Mitten in der Nordsee also, 47 Kilometer von der schleswig-holsteinischen Küste entfernt, 57 von der niedersächsischen - so weit weg vom übrigen Deutschland, dass man fast glauben könnte, dieses einen Quadratkilometer große Fleckchen Land mit seiner vorgelagerten Bade-Düne gehöre gar nicht mehr dazu. Tut es aber, und deshalb hat hier wie in jedem deutschen Dorf der Nationalsport seine Kultstätte. Helgolands Fußballplatz hat keinen Namen, er ist noch nie die Bühne eines richtig großen Spiels gewesen, und sein Kunstrasen sieht etwas mitgenommen aus, obwohl er erst zehn Jahre alt ist. Trotzdem ist er der Stolz des einzigen Helgoländer Sportvereins VfL Fosite, ein Sehnsuchtsort für die wenigen Kicker der Insel und ein Hingucker für den Rest der Nation als entlegenstes und wohl auch umwehtestes Spielfeld Deutschlands.

Oke Zastrow, 37, ist der Vorsitzende des VfL Fosite Helgoland von 1893, außerdem Gemeindeangestellter in der Liegenschaftsverwaltung. Er wartet im Rathaus, es ist ein ruhiger Winternachmittag, und er weist gleich den Weg zum Fußballplatz. Es ist nicht weit, natürlich nicht. Zastrow spaziert an der niedrigen Bücherei vorbei, an der Biologischen Anstalt, am Schwimmbad, an Hagebutten- und Sanddornsträuchern, bis er nach wenigen Minuten vor dem grünen Kunstrasenplatz steht, der sich zwischen Meer und roter Klippe erstreckt. Hier ist es. Oke Zastrow betritt den Platz mit der freundlichen Bescheidenheit eines Hausherren, der weiß, dass er seinen Gästen nicht viel anbieten kann.

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Das entlegenste und wohl auch umwehteste Spielfeld Deutschlands: der Fußballplatz von Helgoland.

(Foto: Thomas Hahn/oh)

Der VfL Fosite hat 500 Mitglieder, was ziemlich viel ist, wenn man bedenkt, dass Helgoland nur etwa 1500 Einwohner hat. Das Vereinsleben in den verschiedenen Abteilungen ist rege, die kleine Turnhalle der James-Krüss-Schule im Oberland ist fast durchgehend belegt. Der Verein lebt von Mitgliedsbeiträgen und den Einnahmen des Helgoland-Marathons, den er jedes Jahr auf der hügeligen Runde ums Eiland veranstaltet. Und die Fußballer gehören zu seinen wichtigsten Botschaftern. Früher war häufiger der Hamburger SV zu Gast, Oke Zastrow hat Schwarz-Weiß-Bilder von Uwe Seeler am Ball vor der Klippe. 2010 gab es ein 2:4 gegen die Alten Herren von Borussia Mönchengladbach. Überhaupt spielt die Mannschaft praktisch nur, wenn sich ein Festland-Klub im Rahmen eines Ausflugs zur Freundschaftspartie bereit erklärt. "Wir sind froh um jede Möglichkeit, die uns geboten wird, gegen einen Gegner zu spielen", sagt Zastrow. Am Ligabetrieb nimmt der VfL nicht teil. Das Festland ist zu weit weg; es zu erreichen ist zu teuer, als dass die Mannschaft alle zwei Wochen zu Auswärtsspielen reisen könnte. "In der Saison arbeiten die Einheimischen außerdem fast alle jeden Tag", sagt Zastrow. Auf einer Ferieninsel gibt es eben keine Wochenenden für weite Teile der arbeitenden Bevölkerung.

Vor ein paar Jahren war mal im Gespräch, ob Helgoland eine Mannschaft zu Turnieren des Verbandes unabhängiger Fußballverbände, Conifa, entsenden sollte, um gegen Teams wie Padanien oder Oberungarn anzutreten; es wurde nichts draus. Im Wettbewerb steht der VfL Fosite vor allem beim jährlichen Heimturnier Lange-Anna-Cup für zwölf Mannschaften. Oder bei Spaß-Ausschreibungen wie jener zum hässlichsten Trikot Deutschlands. "Ansonsten spielen wir immer gegen uns selber", sagt Zastrow. Im Sommer ist Mittwochabend Training auf dem Kunstrasen für die erste Mannschaft mit Spielern zwischen 17 und 55. Sie spielen dann Acht gegen Acht oder wie es eben passt.

Fußball auf Helgoland ist auch ein bisschen Mangelverwaltung. Es gibt hier zu wenig Menschen, als dass man ein homogenes Team aus Gleichaltrigen zusammenstellen könnte. Zwei Jugendmannschaften mit insgesamt 30 Spielern gibt es, eine für Kinder zwischen sechs und elf, die Oke Zastrow mit einem Kollegen trainiert, eine für Jugendliche von zwölf bis 17. Wer aufs Gymnasium will, wechselt meistens ins Internat auf dem Festland und dann zum Studieren, deshalb ist der Nachwuchs etwas dünn. Und der Fußballplatz steht symbolhaft für die Widrigkeiten des Insellebens.

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Vorstandsmitglied Oke Zastrow.

(Foto: Thomas Hahn/oh)

"Durch die salzige Luft und den Windtrieb leidet der Platz sehr", sagt Zastrow und zeigt aufs Grün. Im Teppich schimmern kleine Blattrosetten. Der Wind treibt Blütensamen aufs Feld. Sie sind nicht gleich verteilt, vor allem auf der Seeseite wächst was im künstlichen Gras. Und an der rechten Ecke ist der Platz ganz weiß vom Sand, den es ebenfalls herüberweht.

Früher spielten die Helgoländer auf Grand. Anfang der Achtzigerjahre kam der erste Kunstrasen, der nach 2000 aber derart verwittert, vermoost und brüchig war, dass Verletzungsgefahr bestand. Der jetzige Platz wurde 2008 eingeweiht, und Vereinshelfer versuchen, ihn so gut wie möglich in Schuss zu halten. Ein Angestellter der Gärtnerei bürstet und lockert ihn regelmäßig mit einer Maschine, damit sich nicht zu viel Unkraut festsetzt. Aber gegen manche Verfallserscheinungen ist der Klub machtlos: Seitdem ein Sturm vor zwei Jahren einen Flutlichtmast umriss, gibt es kein Licht mehr. 20 000 Euro würde eine neue Anlage kosten. Die Hälfte würde die Gemeinde übernehmen, aber 10 000 Euro kann Fosite nicht so einfach aufbringen. Und das Flutlicht ist nicht das Einzige, das eine Erneuerung vertragen könnte. Der 100-Meter-Bahn neben dem Feld sieht man ihr Alter an, die Weitsprunganlage, welche ebenfalls dem Schulsport dient, ist marode. Warum kümmert sich die Gemeinde nicht mehr darum? "Tja. Warum wird das nicht gemacht?", sagt Zastrow. "Das wäre eine Frage für den Bürgermeister."

Jörg Singer, parteilos, seit 2011 Rathauschef und auf Helgoland aufgewachsen, hat die Einweihung des ersten Kunstrasenplatzes noch in Erinnerung. Er hat hier selbst Fußball und Handball gespielt. Heute kann er einen Aufschwung verwalten, den die Offshore-Industrie mit sich gebracht hat, weil viele Windenergieanlagen im Meer von Helgoland aus betreut werden. 37 Millionen Euro will die Kommune 2019 ausgeben für eine neue Kläranlage, eine neue Feuerwache, neue Wohnungen, neue Urlauber-Unterkünfte, für die Hafensanierung. Der Fußballplatz ist gerade kein vorrangiges Thema für Singer. "Andere Vorhaben wie die ärztliche Versorgung und der Brandschutz der Insel haben aktuell eine höhere Priorität."

Oke Zastrow ist nicht der Typ, der sich beschwert. Er sitzt ja selbst in der Gemeinde, außerdem ist es nicht so, dass auf dem Platz kein Ball rollen könnte. Er sah schon schlechter aus, und Zastrow mag den Charakter der Arena, der auch etwas vom unvollkommenen und trotzdem reichen Inselleben erzählt. Die Umkleide ist ein alter Betonverschlag, an dessen Fassade das Wappen des VfL Fosite blass geworden ist und den sie "Bunker" nennen. Das Feld hat ein spezielles Profil, damit das Regenwasser abfließen kann. "Der höchste Punkt ist in der Mitte", sagt Zastrow. Und überhaupt muss man wissen, wie man hier spielt. "Die auswärtigen Mannschaften unterschätzen den Wind", sagt Zastrow. Ein Helgoländer weiß, dass man in der ersten Hälfte besser gegen ihn spielt, um es in der zweiten einfacher zu haben. Die Insel hat ihre eigenen Gesetze, und glücklich sind die, die sie kennen.

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