Es war gewiss kein Zeichen fehlenden Respekts, dass die Bremer Entourage eine halbe Stunde vor Mitternacht kein Interesse mehr an der Übertragung einer Pressekonferenz hatte, auf der Florian Kohfeldt verpixelt auf der Videowand der Heidenheimer Arena erschien. Dass es sich um den Cheftrainer des SV Werder handelte, war unschwer herauszuhören, doch Physiotherapeutin Laura Kersting hatte trotzdem Besseres zu tun.
Die blonde Frau, die wochenlang nicht nur die Muskeln Bremer Berufsfußballer behandelte, sondern an jedem Spieltag zuletzt ihren Metallkoffer mit einem Gummihammer bearbeitete, um Lärm für den Bremer Klassenerhalt zu machen, spazierte mit dem filmenden Handy allein über den Rasen auf dem Schlossberg. Ihr tapferes Hämmern gegen eine Heidenheimer Sirene, Ratschen und Pfannen stand letztlich für Werders erfolgreichen Widerstand, in der Bundesliga zu bleiben.
Losgelöst warfen die Werder-Profis ihren scheidenden Altstar Claudio Pizarro, 41, in die Luft, obwohl die Legende am Klassenerhalt in einem turbulenten Relegationsrückspiel - das 2:2 beim Zweitligisten 1. FC Heidenheim reichte nach dem torlosen Hinspiel - keinen aktiven Anteil hatte. Oben in der letzten Reihe der Haupttribüne öffnete derweil Aufsichtsratschef Marco Bode mit seinen Kollegen Kurt Zech und Thomas Krohne die Verschlüsse von Bierflaschen aus schwäbischer Produktion. Auch die Kontrolleure beschäftigten sich mehr mit dem Rundgang Kerstings als mit den Ausführungen Kohfeldts, derweil dieser die Geschehnisse sichtlich aufgewühlt, aber durchaus prägnant zusammenfasste: "Scheiß Saison, geiles Ende."
Er sei stolz, "dass ich durchgehalten habe", bekannte der 37-Jährige ohne Umschweife. Weil der Trainer eben auch Fan ist, konnte der Familienvater nie eine Distanz zum Überlebenskampf aufbauen. Mit beißender Ironie reagierte Kohfeldt auf Fragen nach dem persönlichen Druck. "Ist nur ein Job für mich."
Das Gegenteil ist ja der Fall: Und so fiel erst in dieser Nacht, in der der Werder-Tross noch per Charterflieger über den kleinen Flughafen Nordholz/Cuxhaven in die norddeutsche Heimat zurückkehrte, der ganze Ballast ab. Es sei letztlich "ein Riesenkraftakt" gewesen, bekannte Kohfeldt, eine "Katastrophensaison" zu einem guten Ende zu bringen. Denn: "Wir waren so häufig abgestiegen, so häufig tot." Dass das Bremer Gesicht des Aufbäumens mit neuen Schuhen beim Torjubel kurz vor Schluss ausrutschte und schnell wieder aufstand, fügte sich perfekt ins Bild.
Die Erlösung besorgte Ludwig Augustinsson mit dem zweiten Bremer Treffer erst in der Nachspielzeit (90.+4). Den ersten hatte dankenswerterweise der Ex-Werderaner Norman Theuerkauf nach drei Minuten mit einem kuriosen Eigentor angebracht, insofern taten zwei Treffer von Tim Kleindienst (85 und 90.+8) Werder nicht wirklich weh. Aber Kohfeldt fand es typisch, auch im allerletzten Finale wieder zittern zu müssen. Warum einfach, wenn es auch schwierig geht.
Trotzdem gab der Trainer selbst das Kommando zum hemmungslosen Feiern. Als er frisch geduscht am Absperrband zum Mannschaftsbus spazierte, schrie er noch ein lautes "Ja" über den Vorplatz auf der Anhöhe, was sogar das Gegröle einer beträchtlichen Zahl von Heidenheimer Anhängern übertönte, von denen einige über Umwege ins Stadioninnere kurzzeitig sogar unerlaubte Augenzeugen des umkämpften Entscheidungsspiels gewesen waren.
Später fielen erneut Heidenheimer negativ auf. Auf dem Weg aus der Kabine in den Mannschaftsbus wurden Bremer Spieler mit Bier übergossen. Zudem versuchten einige Chaoten, gegen die Werder-Profis tätlich zu werden. Der Bus wurde außerdem mit Flaschen und Steinen beworfen. Mehrere Personalien seien festgestellt worden, die Polizei ermittelt wegen Landfriedensbruch.
Es trübte die Bremer Freude aber kaum. Der Vorstandsvorsitzende Klaus Filbry eilte gleich zweimal extra die blauen Steinstufen runter an den Spielfeldrand: erst, um den Heidenheimer Spielern anständig Applaus zu klatschen; später, mit Bierflasche in der Hand, um Kohfeldt demonstrativ zu umarmen. Werders Führungscrew scheint sehr dazu zu neigen, dem im eigenen Verein sozialisierten Fußballlehrer weiter zu vertrauen. Er wolle in Ruhe entscheiden, was das Beste für Werder sei, erklärte Kohfeldt und kehrte den Drang nach schonungsloser Aufarbeitung nach außen: "Es kann kein 'Weiter so' geben und es wird kein 'Weiter so' geben, das ist vollkommen klar."
Ansonsten warb er um Verständnis, dass ihm bei aller Sehnsucht nach einer analytischen Einschätzung in erster Linie der Sinn nach Erholung stehe. Er werde sich, "egal was passiert, an irgendeinen Strand legen, wo mich keiner kennt und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen". Da wirkte einer urlaubsreif hoch zehn. Die wochenlange Kritik, obwohl sie aus Kohfeldts Sicht in weiten Teilen berechtigt war, hatte an ihm offenbar genauso genagt wie die quälende Ungewissheit, ob nach 56 Bundesligajahren und 1900 Erstligaspielen für Werder Bremen vorerst Schluss ist. Eine ganze Stadt hätte den zweiten Abstieg nach 1980 betrauert, und Kohfeldt wäre als jener Trainer in die Annalen eingegangen, an dem die Vereinsführung immer festgehalten hatte.
Während der Heidenheimer Vorsitzende Holger Sanwald ("wir haben zweimal nicht verloren") noch mit der Auswärtstorregel in der Relegation haderte und Langzeittrainer Frank Schmidt ("am Ende des Tages dürfen wir uns keinesfalls als Verlierer sehen der Relegation. Man darf nicht vergessen, wo wir herkommen") um die richtige Einordnung rang, beschäftigte sich die Bremer Geschäftsführung bereits mit der Aufarbeitung. Die Verletztenmisere kann nur eine Ursache für die Verzwergung von einem Europapokalanwärter zum Abstiegskandidaten sein.
Offenbar für Donnerstag sind zwischen den Gremien die wichtigsten Gespräche mit dem für den sportlichen Bereich zuständigen Frank Baumann angesetzt. Der möchte unbedingt an Kohfeldt festhalten: "Wir haben Florian immer das Vertrauen ausgesprochen, auch in schwierigen Phasen. Florian hat in einer ganz schwierigen Saison gezeigt, dass er solche Situationen meistern kann. Ich gehe davon aus, dass er Lust hat, diesen Weg weiterzugehen." Baumann, 44, dürfte die Zusage bekommen, schließlich besitzt sein Wunschtrainer ein bis 2023 gültiges Arbeitspapier, aber danach wartet auf ihn die wohl meiste Arbeit.
In seinem Hoheitsgebiet der Kaderplanung sammeln sich Fehleinschätzungen und Versäumnisse, die durch die Pandemie wie unter einem Brennglas verstärkt werden: Durch den Klassenerhalt greifen automatisch teure Kaufoptionen bei Leihspielern, die an der Rettung per Relegation gar keine Rolle mehr spielten. Der dauerverletzte Ömer Toprak und der unstete Leonardo Bittencourt müssen aber für insgesamt einen zweistelligen Millionenbetrag fest verpflichtet werden, zudem verlängert sich das Leihgeschäft mit dem völlig außer Tritt geratenen Davie Selke. Ob die vereinbarten Ablösen und Gehälter in Corona-Zeiten angepasst werden können, ist ungewiss.
Im Gegenzug verliert Werder einige Leistungsträger aus den vergangenen aufreibenden Wochen: Leihgabe Kevin Vogt kehrt nach Hoffenheim zurück, Milot Rashica zieht es weg, vielleicht müssen auch Torwart Jiri Pavlenka oder Verteidiger Milos Veljkovic verkauft werden. Denn der Beinahe-Absturz hat nicht nur viel Kraft, sondern auch viel Geld gekostet. Und die nicht überstandene Pandemie tut noch ihr Übriges.