Süddeutsche Zeitung

Reiten:Entspannte Wochen auf der Weide

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Während sich sein Erfolgspferd Sam erholen darf, denkt Vielseitigkeits-Olympiasieger Michael Jung schon an Tokio.

Von Gabriele Pochhammer

Er steht da und lacht. Nimmt immer wieder die Medaillen, die silberne fürs Team, die goldene für ihn ganz alleine, betrachtet sie, hält sie in unzählige Linsen, und lacht wieder. Kein festgefrorenes Grinsen, auch das könnte man Michael Jung nach dem Marathon vor TV-Kameras und Mikrofonen nicht verübeln. Man muss nicht seine Sätze dazu hören ("ein Traum ist in Erfüllung gegangen"), man muss nur dieses strahlende Lachen sehen, um zu wissen, dass man einen der gerade glücklichsten Menschen der Welt vor sich hat. Im Deutschen Haus ließen sie am Dienstagabend die deutschen Vielseitigkeitsreiter hochleben. Es waren die ersten deutschen Medaillen in Rio de Janeiro, und das Aufatmen der Delegation des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB) war förmlich hörbar.

Michael Jung ist jetzt schon zu einem der Großen dieser Spiele geworden. Denn nicht nur, dass er gewonnen hat, sondern wie er gewonnen hat, gehört in die Geschichtsbücher des Pferdesports. Nur ein kleines Versehen in der Dressur, dann eine Geländerunde 15 Sekunden schneller als nötig, bei einem Kurs in dem nur drei Reiter das Zeitlimit überhaupt schafften. Als er unterwegs auf die Uhr blickte, wollte er das Tempo trotzdem nicht herunterfahren, Sam lief gerade so schön. Den Erfolg komplettierten zwei makellose Springparcours, einer fürs Team, einer für die Einzelwertung, die auch dem bereits angereisten Springreiter Marcus Ehning und dem Trainer Otto Becker Respekt abnötigen. Sie warten nur darauf, dass das Jahrhunderttalent das Lager wechselt. "Bei uns ist er immer willkommen", sagt Otto Becker.

Für die Besitzer hat sich der Kauf von Sam gelohnt: Er hat zu vier Olympia-Medaillen beigetragen

Auch der 16-jährige in Baden-Württemberg gezogene Sam ist jetzt eine Sportlegende, nur eines von drei Pferden in fast hundert Jahren, das seinen Reiter bei zwei aufeinanderfolgenden Olympischen Spielen zur Goldmedaille trug. "So etwas zweimal mit demselben Pferd zu machen, ist schon etwas ganz Besonderes", sagt Michael Jung. Eigentlich sollte Sam zu Hause bleiben und dem jüngeren Takinou den Vortritt lassen. Der sammelt in der Regel in der Dressur mehr Punkte. Aber im Trainingslager erkrankte der französische Fuchs nach einem Zeckenbiss, bekam hohes Fieber und musste mit schweren Antibiotika behandelt werden. Quasi im letzten Moment bestieg Sam den Flieger.

Er sei sehr sensibel, sagt Jung über den Braunen. Deswegen stand er am Tag des Geländeritts schweißgebadet im Stall. Weil er alle die Geräusche hörte, die ihm signalisierten, dass heute ein wichtiger Tag ist: Die Lautsprecherstimme, das Hufgedonner der vorbeigaloppierenden Pferde, die Menschen, die hastiger sprechen und sich schneller bewegen als an anderen Tagen. Einem alten Kämpfer wie Sam kann man nichts vormachen. "Er war heute etwas übermotiviert", sagte Jung nach dem Geländeritt. Zu deutsch: Jung hatte voll damit zu tun, sein Pferd so unter Kontrolle zu behalten, wie es die technisch komplizierten Hindernisse mit manchmal nur handtuch-schmalen Absprungstellen verlangten. "Deswegen sah es heute nicht immer so leicht aus." Manche sagen, dass diese notfalls energisch eingeforderte Kontrolle Männern mehr liege als Frauen. Tatsächlich rangierte erst an zehnter Stelle die beste Frau, die Kanadierin Rebecca Howard.

Auf Sam warten jetzt entspannte Wochen, er darf sich erholen auf der Weide am Reitstall der Familie Jung in Horb. Da ist er am liebsten für sich alleine. Wenn die anderen Pferde in den Stall gehen, wiehert er ihnen nicht hinterher, sondern frisst weiter. Von Herdentrieb keine Spur. Was im nächsten Jahr kommt, wird man sehen. Es war nicht immer sicher, dass Sam bei Familie Jung würde bleiben können, die damalige Besitzerin hatte ihn 2010 sogar entführt, um einen höheren Kaufpreis herauszuschinden. Das Problem konnte gelöst werden, einer der Retter, ein mittelständischer Unternehmer aus dem Schwarzwald, feierte am Dienstagabend mit der Familie Jung den Erfolg seines Pferdes.

Auch für den Mitbesitzer, den deutschen Reiterverband, hat sich der Griff zum Scheckbuch gelohnt: Sam hat seit dem Kauf zu vier Olympia-Medaillen beigetragen. Dabei wird es wohl bleiben. 2020 wird er nicht mehr dabei sein, Michael Jung hingegen hat Tokio schon fest im Visier. Als Olympiazweite ist die deutsche Mannschaft bereits qualifiziert. Pferde hat Jung genug, drei standen für Rio zur Auswahl. Jede Woche werden ihm neue Talente angeboten. Erst lässt er sich ein Video schicken, dann müssen die Verkäufer ihr Pferd in Horb vorreiten, bevor er sich selbst in den Sattel schwingt. Ob Michael Jung in Tokio wirklich noch querbeet reitet, oder ob er längst im Springsattel unterwegs ist, ist die Frage. Bisher fehlt ihm das Top-Springpferd. Vielleicht wird er sich gar nicht entscheiden müssen. Sondern beides machen.

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SZ vom 11.08.2016
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