Real Madrid:Der Klub, der mehr Tode verschwendet als jede Katze

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Marcelo (li.) hält Cristiano Ronaldo zurück - es war noch eine der harmloseren Szenen des Abends. (Foto: dpa)
  • Beim 3:1 gegen Juventus Turin kommt es in Madrid zu riesigen Tumulten, weil die Italiener an einem Elfmeterpfiff in der Nachspielzeit verzweifeln.
  • Real zementiert mit dem epischen Weiterkommen seine Ambitionen auf einen erneuten Champions-League-Triumph.
  • Für Sergio Ramos könnte ein Handgemenge noch Konsequenzen haben.

Von Javier Cáceres , Madrid

Irgendwann in den Achtzigern entwickelte Juanito, der längst verstorbene Angreifer von Real Madrid, eine Formel, die in ihrer Unwiderlegbarkeit an Newtons Gesetze heranreichte: "Noventa minuti en el Bernabéu son molto longos", sagte die legendäre Nummer "7" Reals in einer seltsamen Mischung aus Italienisch und Spanisch, die jeder, der einer mediterranen Sprache mächtig ist, verstand: "90 Minuten im Bernabéu sind sehr lang." Und fürwahr: Welche Mannschaft legt eine größere Leidensfähigkeit an den Tag als Real, wenn es um den Königsklassen-Pokal geht, um den Fetisch der Institution?

Durch unzählige Aufholjagden hat sich bei Real eine Gewissheit eingebrannt: Mag die Agonie noch so dramatisch sein, es findet sich doch immer ein Weg zur unwahrscheinlichsten Rettung, die man sich denken kann. Als sei unter dem Wappen ein Defibrillator versteckt, der Herzstillstände abwendet, feiert Real Madrid Auferstehung um Auferstehung.

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In der 93. Minute bekommt Madrid gegen Juventus Turin einen diskutablen Elfmeter und natürlich ist es der Weltfußballer, der ihn verwandelt. Selbst Kritiker müssen anerkennen: Er macht das überragend.

Von Carsten Scheele

Es ist ein Klub, der mehr Tode verschwendet als jede Katze. Und dennoch: Mittwochnacht, als sich die Anhänger von Real wieder gesammelt und allmählich angefangen hatten, die Qualifikation für das Halbfinale der Champions League gegen Juventus Turin zu metabolisieren, kamen sie nicht umhin zu sagen: Eine derart überbordende Pointe nach dem längsten Flirt mit dem Abgrund der Fußballgeschichte haben sie auch hier in Madrid noch nicht gesehen.

Und falls Juanito dies hier lesen sollte: Es waren nicht 90, sondern 98 Minuten im Bernabéu gewesen, und die letzten fünf davon hatten sich derart hingezogen, dass das ganze Universum hineinpasste. Die Pointe war einer dieser Elfmeter, an die man sich noch in Jahrzehnten erinnern wird. Denn als er gepfiffen wurde, hatte Juventus den 3:0-Vorsprung von Real aus dem Hinspiel egalisiert. Die Verlängerung, die fast erreicht war, versprach ein neues Spiel. Dann chippte Toni Kroos in der 93. Minute einen Ball auf Cristiano Ronaldo in den Strafraum, der per Kopf auf Lucas Vázquez ablegte - und die Zeit gefror.

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Juves Innenverteidiger Medhi Benatia rauschte heran und bedrängte den Spanier, der nur wenige Meter vor Juves Torwart Gigi Buffon stand. Lucas Vázquez ging zu Boden, und der englische Schiedsrichter Michael Oliver, 33, pfiff: Strafstoß. "Klarer Elfmeter", sagte Lucas Vázquez später, "er hat mich überrollt", was so übertrieben war wie das, was Benatia später zum Besten gab, als er seine schwarz gerahmte Brille auf der Nase zurechtgerückt hatte.

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In Italien herrscht riesige Empörung über den späten Elfmeter, der Juventus in Madrid verzweifeln lässt. Die Medien verneigen sich aber auch vor einer starken Turiner Elf.

Er habe Vázquez gar nicht berührt, wohl aber mit dem linken Fuß gegen den Ball getreten, sagte der Marokkaner: "Ich habe das Gefühl, vergewaltigt worden zu sein, wie die Bayern im vergangenen Jahr" - als jene in Madrid im Viertelfinale ausschieden "und es zwei oder drei Abseitstore für Real gab", sagte Benatia. Es half ja nichts. Die Strafstoßentscheidung - berechtigt, aber nicht zwingend - blieb. Juves Kapitän Gigi Buffon, 40, wurde bei seinem wohl letzten Europacup-Einsatz wegen irgendwelcher Flüche, die er inmitten des Tumults um Referee Oliver ausstieß, des Feldes verwiesen und durch Wojciech Szczesny ersetzt, der beim Strafstoß nicht den Hauch einer Chance hatte.

Ronaldo verwandelte mit einer Kälte, die vermuten lässt, dass durch seine Adern kein Blut, sondern abschmelzendes Gletschereis fließt. Es war Ronaldos 23. Treffer im 20. Viertelfinal-Auftritt in der Königsklasse; er kann nun auf insgesamt 120 Champions-League-Tore verweisen. Und es war der Treffer, nach dem kaum jemand mehr von der vorangegangenen Schlacht zu sprechen wagte, die letztlich nutzlose Juve-Tore von Mario Mandzukic (2./37.) und Blaise Matuidi beinhaltet hatte.

Dass bei den Italienern die Adern schwollen, als aus den Lautsprechern die Vereinshymne Reals schepperte, war nur nachvollziehbar. Was sollten sie auch empfinden außer blankem Furor? Noch auf dem Platz kam es zu Rempeleien und Beleidigungen in alle Himmelsrichtungen, im Kabinentunnel flogen, wie Reals Pressesprecher hernach streuten, beinahe die Fäuste - wie vor einem Jahr bei besagtem Spiel Real Madrids gegen den FC Bayern. Angeblich war Sergio Ramos diesmal bei dem Versuch federführend, die Streithähne zu trennen.

Als gesperrtem Spieler war ihm der Zutritt in den Kabinenbereich freilich verboten, und das könnte für Reals Halbfinalgegner möglicherweise eine exzellente Nachricht sein: Ramos, als General des weißen Heeres gegen Juve in der Abwehr schmerzlich vermisst, droht eine weitere Sanktion durch Europas Fußballunion Uefa; der frühere Madrilene und spätere Bayern-Profi Xabi Alonso wurde 2014 wegen eines solchen Vergehens für ein Spiel gesperrt. Damit würde Ramos auch das Halbfinal-Hinspiel verpassen. Angesichts dieser offenbar wüsten Szenerie war erstaunlich, wie ruhig nicht nur Buffon und Chiellini, sondern auch Klub-Eigner Andrea Agnelli über das Aus räsonierten, als sie die Kabine wieder verlassen hatten.

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Agnelli, der auch der Vereinigung der größten europäischen Klubs (ECA) vorsteht, plädierte für den Einsatz des Video-Schiedsrichters, der in Italien besser funktionieren soll als in Deutschland: "Wir haben die Technologie, um solche Fehler zu vermeiden, und ich bin sicher, dass der Schiedsrichter die am meisten enttäuschte Person des Abends sein wird, wenn er sich den Mitschnitt des Spiels noch mal anschaut", sagte er. Doch wer weiß? Je länger die Nacht dauerte, desto bemerkenswerter war der Frontverlauf der Meinungen, die sich zur Szene des Spiels entwickelten.

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Bis in die Nachspielzeit hinein steht es 3:0 für Juventus Turin - dann bekommt Real Madrid einen Elfmeter, der den Halbfinaleinzug einleitet. Juve-Torwart Buffon wird zuvor vom Platz geschickt.

Von Javier Cáceres

Denn nicht nur Madrid- und Juve-Spieler sowie Fans standen sich gegenüber, auch Ex-Profis und Ex-Schiedsrichter waren uneinig. Morgens um zwei saßen die früheren Real-Spieler Christian Karembeu und Steve McManaman in einem Restaurant in Stadionnähe und schlossen sich der Meinung von Jorge Valdano an, der im TV auf Elfmeter plädiert hatte. Frühere spanische Schiedsrichter hingegen, die nun als Experten für Radiosender arbeiten, votierten fast alle für: kein Strafstoß. Und Juves Trainer Massimiliano Allegri zuckte mit den Achseln: Es sei ein Grauzonen-Elfmeter gewesen, einer dieser Kann-man-geben-Strafstöße, der in einer ähnlichen Situation im anderen Strafraum eher nicht gepfiffen worden wäre.

"Weinen hilft nichts", klagte Allegri, der vielleicht den größten Fehler des Abends begangen hatte. Statt nach dem 3:0 auch nach dem vierten Treffer zu trachten, statt Real Madrid also zeitig auszuknocken und den Autopsiebericht zu unterschreiben, beorderte er sein Team nach hinten und sparte sich zwei von drei möglichen Spielerwechseln für die Verlängerung auf, die dann nie kam. "Dieses Spiel hätte sie verdient gehabt, alle Welt hat das gesehen", sagte Verteidiger Benatia und sprach damit eine Wahrheit aus, die so wenig zu widerlegen ist wie Juanitos ewiges Gesetz.

© SZ vom 13.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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