Süddeutsche Zeitung

RB Salzburg:Der Nachschub an Hochbegabten reißt nie ab

Ausbilden, Siegen, Verkaufen: RB Salzburg fühlt sich wohl in seiner Endlosschleife. Unter Trainer Jesse Marsch gibt es eine Meisterschaft mit Torrekord - bei seinem Amtsantritt reagierten die Fans noch ablehnend.

Von Moritz Kielbassa

Es gibt ein Zauberwort im Werkzeugkasten von Jesse Marsch: "Mentalität". Ein inflationär gebrauchter Begriff in der Sprache des Fußballs, oft nur eine leere Hülse. Der Trainer von Red Bull Salzburg jedoch spricht mit ansteckender Begeisterung über Mentalität, übers Immer-Gewinnen-Wollen, über Teamspirit, Energie und all diese typisch amerikanischen Ansätze. Er tut es auf seine Art, nicht zu aufdringlich, nicht platt, nicht gekünstelt. Und Marsch, 46, will vorleben, was er fordert, also ging er auch am letzten Spieltag der österreichischen Liga, beim 3:0 in Linz, in seiner Coachzone volle Pulle mit.

Salzburg stand vorher längst als Meister fest. Der Gegner aus Linz, genannt LASK, der RB monatelang an der Tabellenspitze hartnäckig herausgefordert hatte, war in den Wochen zuvor ermattet. Trotzdem hat der Trainer aus Wisconsin bei allen drei Toren die Arme hochgerissen, die geballten Fäuste durch die Luft gewedelt und dabei gestrahlt wie ein Sunnyboy aus der Zahncremewerbung - als wäre es noch um irgendwas ganz, ganz Großes gegangen.

Ein bisschen stimmte das sogar. Denn erst die allerletzte Saisonsekunde war das Schlagobers auf ein sehr spezielles Salzburger Jahr, voller Geschichten, Hochs und Tiefs. Das 3:0 in Linz, ein Elfmeter in Minute 95, war auf der Ziellinie das 110. Saisontor - Ligarekord! Zehn Stammspieler hatte Salzburg vor und in der Saison verloren, auch den Wunderwuzzi-Stürmer Erling Haaland. Trotzdem schafften sie am Ende (mit vier Spielen weniger) genauso viele Tore wie 2014 die bisher Besten: die spektakuläre RB-Elf des Trainers Roger Schmidt, mit Sadio Mané, Kevin Kampl und Co.

Dem Trainer schien dieser Superlativ am Rande wichtig zu sein. Meister und Pokalsieger, ja gut, das ist Salzburger Standard. Doch die Art und Weise gab die Würze. "Ich bin nur ein Jahr hier, ich kenne nicht die ganze Geschichte des Fußballs in Österreich. Aber eine bessere Mannschaft hier kann man sich schwer vorstellen: so viele Tore und die beste Abwehr der Liga - es war eine Supersaison", sagte Marsch. Er trägt bei Lob gerne dick auf, ein Spieler ist bei ihm selten nur gut, sondern mindestens "sooo, sooo gut". Und, natürlich: "Alle Jungs hatten eine Supermentalität."

Das hausdesignte Meister-T-Shirt zierte eine große rote "7", die fast wie eine "1" aussah. Es war das perfekte Mottohemd für Marsch. Er führte Salzburg zum siebten Titel in Serie, und für ihn war es das erste Mal: "Diese Meisterschaft ist ganz besonders für mich", sagte er nach aufwühlenden zwölf Monaten, die Anlauf und Stehvermögen erforderten. Als der neue Coach, einst Student in Princeton und Profi in der US-Liga, ankam in der Mozartstadt, da glaubten viele, sein nach Mönchengladbach verzogener Vorgänger Marco Rose hätte Salzburg auf ein nicht mehr zu toppendes Level geführt. "Die Fußstapfen von Rose waren riesig - Marsch hat sie ausgefüllt", sagt Alfred Tatar, der populärste Fußball-TV-Experte des Landes (Sky).

"Er ist ein Vorbild für uns mit seiner Art"

Die Geschichte begann im Juli 2019, mit einem Plakat: "Nein zu Marsch!" pinselten Fans zur Begrüßung des Trainers auf ein Banner. Sie sahen den Neuen aus der Fußballfamilie von RB kritisch. Denn Marsch, früher Erfolgscoach der New Yorker Bullen, hatte zuvor ein Assistenzjahr bei Ralf Rangnick in Leipzig absolviert - und Salzburgs Fans reagieren inzwischen allergisch auf den aus ihrer Sicht zu langen Arm des Schwesterklubs aus Sachsen. Aber dann lernten sie Marsch kennen: kompetent, immerzu positiv, chronisch gutgläubig - ein Energiemensch, der sogar im Tiefschlaf Bäume ausreißen möchte.

"Jesse war damals in New York unsere beste Verpflichtung", sagt Oliver Mintzlaff, der Leipziger Klubchef, der auch den RB-Standort in den USA managte. In der Heimat galt Marsch bei vielen als übertrieben selbstbewusst. Er selbst reflektiert das so: "Ich habe den Glauben, dass ich der Beste sein kann. Das ist sehr amerikanisch, ein bisschen naiv." Der Salzburger Kapitän Andreas Ulmer, nach elf Jahren beim Verein der Silberrücken im Talentschuppen, sagt über Marsch: "Er ist ein Vorbild für uns mit seiner Art, wie er alle täglich pusht."

Der Motivator nutzt gerne Ami-Sprech: "You have to be online all the time." Oder: "Empty the tank!" Immer Starkstrom, immer alles raushauen. Marsch steht für den Fußball nach Machart von RB, für einen Stil, den er "aggressive by nature" nennt. Und so spielte seine Elf dann auch. Gezogen vom Ausnahmestürmer Haaland, widerlegte sie im Herbst die Skeptiker. Und als Salzburg, zuvor in einer bitteren Lachnummerserie elfmal in der Qualifikation gecrasht, als Neuling dann auch in der Champions League auftrumpfte, da wurde der Trainer durch ein Video bekannt.

0:3 lag RB hinten, beim großen FC Liverpool. Marsch, der in jeder Lebenslage Mut empfiehlt, fegte zur Pause im feinen Zwirn durch die Kabine, er redete alle stark und plärrte vor laufender Kamera des Klubsenders: "Das ist not a fucking Freundschaftsspiel!" Aus 0:3 wurde ein 3:3, und obwohl Salzburg 3:4 verlor, flogen dem Dosenklub viele Sympathien zu. Sogar die Wiener Stürmerikone Hans Krankl zollte Anerkennung: "Dieses Video hätten sie niemals veröffentlichen dürfen - aber es ist großartig. Jesse, you are a fucking great guy!"

Nach dem ehrenwerten Dezember-Aus in der Königsklasse erklärte Marsch den Gewinn der Europa League zum Ziel. Aber dann kam es wie immer, nur schlimmer. Salzburg, längst ein internationaler Börsenplatz für junge heiße Aktien, verlor Haaland (Dortmund), Minamino (Liverpool) und Pongracic (Wolfsburg) - und fiel in ein Loch: Fünf Spiele ohne Sieg, das gab's noch nie. Kurz vor Corona hatte der freche LASK plötzlich sechs Punkte Vorsprung.

Marsch hat danach mit den Spielern viel geredet. Darüber, dass "im Leben nicht alles nach Plan läuft", dass auch bei ihm "niemand geglaubt hatte, dass ich als Spieler oder Trainer gut genug bin". Er machte Salzburg zur Wagenburg: Die da draußen glauben nicht mehr an euch - ihr zeigt es ihnen! Marsch erzählte auch, wie der tödlich verunglückte Basketballer Kobe Bryant einst vom verhassten Rookie zur Respektsperson wurde - durch Training Tag und Nacht: "Diese endlose Zielstrebigkeit brauchen auch wir", sagte er. Und als die Liga nach der Pandemiepause weiterging, war wieder alles gut. Ohne Niederlage sprintete Salzburg zum Titel. Linz stürzte nach Corona-Sünden (vier Punkte Abzug für zu frühes Training) auf Platz vier ab. Rekordmeister Rapid Wien, am Ende starker Zweiter, wurde von RB daheim 2:7 vermöbelt.

Salzburg gibt auch jetzt wieder Spieler ab, wie Hee-chan Hwang, 24, der nach Leipzig geht. Es wäre zwar falsch, den fleißigen Stürmer aus Korea als "Nachfolger" von Torjäger Timo Werner zu etikettieren. Dennoch ist es schon der 18. Transfer aus Salzburg zur größeren deutschen Filiale, seit 2012 der Sportchef Rangnick das System RB initiierte. Die anfangs enge Verzahnung beider Klubs wurde allerdings gelöst, auch wegen der Europacup-Vorschriften, Transfers gibt es nur noch punktuell.

Steht schon der nächste Senkrechtstarter im Fokus?

Ein Wechsel ins Ausland wäre auch naheliegend bei Salzburgs bestem Saisontorschützen, Patson Daka aus Sambia (24 Ligatreffer) - ebenso bei Dominik Szoboszlai. Der Ungar, 19, kam schon als Supertechniker in Salzburg an, dort packte er jetzt Mentalität dazu. Die Corona-Pause nutzte der Luftikus zum Nachdenken, laut Selbstauskunft ist er dabei "ein Mann geworden". Das ergab Sinn, seit Juni glänzte Szoboszlai mit 17 Torbeteiligungen. Bei der Salzburger Meisterfeier applaudierte neben Konzernchef Mateschitz auch der RB-Globaldirektor Rangnick auf der Tribüne. Der AC Milan, der Rangnick holen möchte, soll auch an Szoboszlai interessiert sein.

Salzburg fühlt sich aber gar nicht unwohl in dieser Endlosschleife: Ausbilden, Siegen, Verkaufen, Ausbilden, Siegen, Verkaufen. Der Klub wird geplündert, immer wieder, doch der Nachschub an früh gescouteten Hochbegabten reißt nie ab. Bald schon stehen vielleicht die nächsten Senkrechtstarter im Fokus: Adeyemi, Okafor, Camara. "Alle im Kader haben sooo viel Qualität", sagt Marsch, der selbst medial bereits als möglicher Favre-Nachfolger in Dortmund galt. Auch er wird nicht in Salzburg Pensionär werden, aber er hat zugesichert, zu bleiben. Marsch findet's leiwand im Alpenland - und hat noch viel vor: "Salzburg muss jedes Jahr Champions League spielen. Wir wollen das neue Ajax Amsterdam werden."

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SZ vom 10.07.2020/ska
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