RB Leipzig:Wenn der Hals zum Rettungsring schwillt

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"Unfassbar": Julian Nagelsmann ärgert sich nach dem 2:2 gegen Hertha BSC über folgenschwere Abwehrfehler.

Von Javier Cáceres, Leipzig

Rune Jarstein, seit fünf Jahren Torwart bei Hertha BSC, gilt als ein reifer, gefestigter Mann; der Familienvater ist nun auch schon 35 Jahre alt. So war es kaum verwunderlich, dass sein Trainer Bruno Labbadia schon am Mittwochabend Entwarnung gab, nachdem sich Jarstein in Leipzig einen monumentalen Patzer geleistet hatte, der sein Team fast um den Lohn harter Mühen gebracht hätte. Er habe Rune Jarstein in die Augen geschaut und sei danach sicher gewesen, dass da nichts hängengeblieben war, sagte Labbadia.

Mit anderen Worten: Die Psyche des Norwegers im Berliner Tor war intakt geblieben, trotz dieses Ausflugs in die wunderbare Welt des Slapsticks, die vielerorts Aufsehen erregte. "Das Ding ist erledigt für uns", sagte Labbadia. Er versicherte auch am Tag danach, dass sein grundsätzliches Vertrauen in Jarstein unerschütterlich bleibe: "Schon als wir hier angefangen haben, war für uns war klar, dass Rune unsere Nummer eins ist, das haben wir ihm auch vom ersten Tag an gesagt." Und dabei bleibe es, versichert Labbadia.

Dabei passte der Fehler von Jarstein zu einem brutalen Bonmot von Alfredo Di Stéfano, dem ersten Weltstar des Fußballs: "Ich verlange ja gar nicht, dass Du die Bälle hältst, die ins Tor fliegen", rief Don Alfredo zu seiner Zeit als Trainer des FC Valencia seinem Torwart zu, "mir reicht es, wenn Du nicht die Bälle reinhaust, die vorbeigehen!" Dass Jarstein sich in der 68. Minute den Ball selbst reingehauen hatte, räumte er am Mittwoch persönlich ein, auch wenn er über die Gründe dafür rätselte. Allenfalls eine Annäherung an die Geschehnisse wagte er: "Ich weiß nicht, was genau passiert ist. Es war ein ekliger Ball, ein Aufsetzer, und dann hab ich ihn mir selbst ins Tor geschlagen", sagte er.

Jarstein führte mit dieser Darstellung ad absurdum, dass das Tor zum zwischenzeitlichen 2:1 offiziell dem Leipziger Stürmer Patrik Schick zugesprochen wurde. Dessen Fernschuss hatte Jarstein tatsächlich pariert, ehe er den Ball ungelenk ins eigene Tor schaufelte. Umso glücklicher war er darüber, dass Herthas Einwechselspieler Krzystof Piatek mit einem verwandelten Foulelfmeter den Gästen noch zum 2:2 (81.) verhalf. Es war ein verdienter Punkt, auch wenn RB-Trainer Nagelsmann die Gründe für Herthas siebten Zähler aus drei Spielen eher bei seinem eigenen Team verortete: "Der Gegner hat kein berauschendes Spiel gemacht, wir geben ihm eigenverschuldet einen Punkt mit."

Dass Nagelsmanns Hals den Umfang eines Rettungsrings hatte, lag vor allem an der 9. Minute, als Herthas Mittelfeldspieler Marco Grujic einen Eckstoß von Marvin Plattenhardt zur 1:0-Führung ins Tor verlängerte. Die RB-Profis hatten im Strafraum die Räume, die sie verteidigen sollten, bloß regungslos betrachtet, als wären sie Jäger seltener Schmetterlinge und nicht ein wildentschlossener Abwehrverbund im Kampf um den Ball. "Wie eine Schülermannschaft" habe sich seine Mannschaft verhalten, wetterte Nagelsmann und schüttelte sich: "Unfassbar."

Danach hatte Leipzig zwar Schwierigkeiten, das Spiel gegen eine straff organisierte und gut verteidigende Hertha komplett zu dominieren. Gleichwohl drehten die Gastgeber das Geschehen: Erst glich Lukas Klostermann (24.) nach einem Eckball die Hertha-Führung aus, und obwohl sich Marcel Halstenberg nach rund einer Stunde ein Foul an Stürmer Matheus Cunha im Mittelfeld leistete und dafür die gelb-rote Karte sah ("auch eine von vorne bis hinten unnötige Aktion", sagte Nagelsmann), schaffte Patrik Schick dank der Kollaboration von Torwart Jarstein das 2:1.

Den Schlusspunkt aber setzte Hertha, weil RB-Einwechselspieler Ademola Lookman mit einem Foul an Cunha den von Piatek verwandelten Strafstoß verursachte. "Nach diesem Nackenschlag, dem unglücklichen 2:1, so zurückzukommen, ist echt klasse", sagte Hertha-Coach Labbadia. Wobei seiner Elf in die Karten spielte, dass es RB im Offensivspiel an Geduld mangelte. Statt die Zeit zu nutzen, um "den Ball festzumachen und nachzurücken", habe man fast jeden Ball direkt gespielt, monierte Nagelsmann. Mit direkten und indirekten Folgen. Die unmittelbare Konsequenz - die höhere Fehlerwahrscheinlichkeit bei Direktspiel - führte zum übergeordneten Resultat: Leipzig verpasste den Sprung auf den zweiten Tabellenplatz, den die Rivalen aus der Spitzengruppe (Dortmund, Gladbach, Leverkusen) mit ihren Patzern "auf dem Silbertablett serviert" hatten.

Zusätzlichen Ärger bereitete Nagelsmann die Spielansetzung an sich. Er wolle kein Alibi suchen, betonte er. Aber dass Hertha am Freitagabend und RB erst am Sonntagnachmittag gespielt, die Berliner mithin fast zwei Tage mehr Zeit hatten, begriff er als Affront. "Es sei nun schon "zum wiederholten Mal" so gewesen, "dass wir einen richtig beschissenen Spielplan kriegen, das kann ich nicht ganz nachvollziehen", sagte er beim Streamingdienst DAZN. Labbadia wollte sich damit am Donnerstag nicht lange aufhalten: "Wenn wir jetzt alles aufrollen würden, was uns widerfahren ist, dass die Mannschaft 14 Tage in Quarantäne war, die Woche danach ohne Trainer trainiert hat, uns letztlich drei Wochen gefehlt haben ..." Fakt sei, dass man "prinzipiell noch lange nicht" auf Augenhöhe mit Leipzig sei. Aber: "Gestern waren wir's", stellte Labbadia zufrieden fest - und lässt damit in Berlin die Hoffnung auf mehr wachsen.

© SZ vom 29.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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