Die Dimension des Scheiterns der Führung von RB Leipzig lässt sich ganz gut an dem kurzen Zeitraum ablesen, der seit einer Nachricht vergangen ist, die damals für die Fußballbranche bemerkenswert war: Kaum mehr als 70 Tage ist es her, dass die Öffentlichkeit davon erfuhr, der Trainer Domenico Tedesco, 36, habe auf geschätzte zwölf Millionen Euro verzichtet. RB Leipzig hatte ihm eine dreijährige Vertragsverlängerung angeboten, doch Tedesco stellte das Angebot zurück - obwohl er wusste, dass ihm damit im Zweifelsfall eine höhere Abfindung entgehen würde.
Am Mittwoch teilte nun der Klubchef Oliver Mintzlaff seinem Trainer frühmorgens mit, dass er beurlaubt sei - nach nur fünf Spieltagen in der Bundesliga, mit mäßigen Ergebnissen und Tabellenplatz elf sowie einem krachenden 1:4 in der Champions League gegen Donezk. Oder, wenn man die Zeitachse ausdehnt: nachdem Tedesco Leipzig zur besten Rückrundenmannschaft der Vorsaison, zum DFB-Pokalsieger und zum Europa-League-Halbfinalisten gemacht hatte.
Dass Tedesco seinerzeit Nein zur Vertragsofferte sagte, hatte viel mit einer Vakanz zu tun, die einen Teil der Probleme von RB Leipzig erklärt. Der Coach hatte vor der Unterschrift wissen wollen, wer in Leipzig künftig Sportdirektor und somit sein Vorgesetzter sein würde. Diese Rolle wird seit dem Abschied von Markus Krösche (Eintracht Frankfurt) von einem Triumvirat ausgefüllt, dessen öffentlich sichtbarer Kopf Mintzlaff ist. Eine andere Frage, die Tedescos Nein zur Unterschrift motivierte, ist nun beantwortet: Wie würde sich die Klubführung, also speziell Mintzlaff, verhalten, wenn es mal nicht so laufen sollte? Beim ersten steifen Gegenwind schickte Mintzlaff jetzt jenen Trainer, der ihn nach dem Pokalerfolg in Berlin auf dem Rasen zu Tränen gerührt hatte, in die Wüste.
Mintzlaffs Wutausbruch am zweiten Spieltag war Benzin auf ein glimmendes Feuer
Natürlich ließe sich nun trefflich über taktische Aspekte des Schaffens von Tedesco reden. Fakt ist aber: Tedesco musste in einem brennenden Haus arbeiten, seit Mintzlaff bereits nach dem zweiten Spieltag dieser Saison Nerven zeigte und von einem "beschissenen" Start sprach. Dieser unvermittelte Ausbruch - Leipzig hatte in der Liga zweimal Unentschieden gespielt - war Benzin auf ein bis dahin nur glimmendes Feuer. Und Fußballer haben feine Antennen, sie nehmen wahr, wann ein Trainer angezählt ist. Und für jeden, der schwer von Begriff war, wurde Tedescos Demontage medial zuletzt zum täglich Brot bei RB.
Dass in der Kabine Unzufriedenheit herrscht, hat auch mit einer Transferpolitik zu tun, die Leipzigs Macher als großartig feiern. Tatsächlich ging diese zuletzt an den Bedürfnissen des Teams vorbei und schuf Probleme, wo zuvor keine waren. Das Lifting der Defensive - dringend nötig, um mit den Topteams konkurrenzfähig zu sein - geriet halbherzig. Der neue Linksverteidiger David Raum ist in Leipzig ein Großverdiener - und bisher ein Schatten jenes Spielers, der sich in Hoffenheim in die Nationalelf spielte. Seine Leistung lässt jeden Tag die Erinnerung an Vorgänger Angelino aufleben.
Im Sturm wäre wegen der Langzeitverletzung von Yussuf Poulsen ein Strafraumstürmer vonnöten gewesen - doch es kam Timo Werner, der verlorene Sohn vom FC Chelsea, der genau dies nicht ist und sich mit Christopher Nkunku, dem Leipziger Top-Spieler der Vorsaison, in etwa so gut im Passspiel vermengt wie Öl und Wasser. Die Werner-Personalie irritierte zudem Stürmer André Silva, der latent schmollt - ähnlich wie Zugang Xaver Schlager (aus Wolfsburg), der zwölf Millionen Euro gekostet hat, aber nun Opfer eines Überangebots an zentralen Mittelfeldspielern ist.
Spieler mit Potenzial werden sich drei Mal überlegen, ob sie in Leipzig bleiben
Es ist müßig, darüber zu philosophieren, ob das mit einem Sportdirektor, der anders als Mintzlaff nicht aus der Leichtathletik, sondern dem Fußball kommt, auch so passiert wäre. Aber die Wahrscheinlichkeit ist nicht so klein. Nun soll wohl Max Eberl als Sportchef übernehmen - vorausgesetzt, Leipzig einigt sich mit den Gladbachern, die über den raschen Wiedereinstieg ihres Ex-Managers alles andere als amüsiert sind, auf eine millionenschwere Ablösesumme. Wann das geschieht, war am Mittwoch weiterhin offen.
Dafür deutete zügig alles darauf hin, dass Marco Rose seinen Kollegen Tedesco als RB-Trainer beerbt. Rose und Eberl haben in Gladbach zusammengearbeitet, das klingt nach Harmonie. Wobei interessant werden dürfte, wie sich die Spannungsfelder in Leipzig entwickeln. Spannend werden die neuen Zeiten so oder so: Der neue Trainer muss mit einer kriselnden Mannschaft die Kurve kriegen, und Eberl wird absehbar den Kader umbauen müssen. Spieler mit Potenzial wie Nkunku, Olmo und Gvardiol werden sich drei Mal überlegen, ob sie in Leipzig bleiben. Vielleicht sogar schon im Winter.
Vorerst kann sich der Klubboss Mintzlaff nur über einen Aspekt freuen: dass er durch Tedescos ehrenwertes Verhalten eine Menge Abfindungsmillionen gespart hat.